Wo gehse, Kulturhauptstadt Teil III: Interview mit Michael Townsend (Kulturdezernent der Stadt Bochum)
Sarah Meyer-Dietrich sprach mit dem Bochumer Kulturdezernenten Michael Townsend über das Kulturhauptstadtjahr aus Sicht der Stadtentwicklung, über die Bedeutung von Kultur und Kreativquartieren und darüber, warum Bochum noch lange Kulturhauptstadt bleiben wird. Von Sarah Meyer-Dietrich.
2010 ist um. Was ist für Sie als Kulturdezernent der Stadt Bochum das Resümee zur Kulturhauptstadt?
Michael Townsend: Insgesamt hat das ganze Thema Kulturhauptstadt der Region, und damit auch Bochum, außerordentlich gut getan hat. Es hat sehr viel Diskurs ausgelöst und sehr viele Impulse gesetzt. Und es hat die Region im Bereich der Kreativwirtschaft und in Bezug auf die kulturellen Infrastrukturen einen großen Schritt nach vorne gebracht. Vor allem hat es, auch international, eine ganz neue Kommunikation über die Region ausgelöst.
Selbst die Institutionen der freien Szene, die nicht unmittelbar subventioniert werden konnten, haben einen Schub durch das Kulturhauptstadtjahr bekommen. Einfach deshalb, weil insgesamt eine viel stärkere Aufmerksamkeit für Kultur entstanden ist. Nehmen wir zum Beispiel das Theater in der Rottstraße in Bochum, das sich selbst eher als Gegenveranstaltung zur Kulturhauptstadt sah: Das ist mittlerweile, auch wenn die den Begriff vielleicht nicht so gerne hören wollen, eines der bedeutendsten Off-Theater der Republik geworden.
Schon zu Beginn der Planungen hatten Sie darauf verwiesen, dass die Kulturhauptstadtprojekte nachhaltig gedacht werden müssen.
Townsend: Das stimmt, ich habe schon im Vorfeld immer gesagt, dass das Kulturhauptstadtjahr nicht daraus bestehen kann, dass Anna Netrebko auf dem Rathausvorplatz singt. Das ist zwar ein netter Gag, aber wirkt eben auch eher wie ein Strohfeuer, das bringt uns nicht weiter.
Und rückblickend: Wie gut war dieser Anspruch an Nachhaltigkeit umsetzbar?
Townsend: Insgesamt sind tolle Projekte aus der Kulturhauptstadt entstanden, die auch langfristig bestehen werden. Sei es der Plan für ein großes Musikzentrum für Bochum oder ein Projekt wie Urbanatix, bei dem Streetart mit professioneller Artistik verbunden wird. Andererseits gab es ja den großen Teil der kulturellen Einrichtungen und der kulturellen Szene vorher schon. Für diese Bestandseinrichtungen hat das Kulturhauptstadtjahr als eine Art Durchlauferhitzer gewirkt, zumal wir zum Beispiel Millionenbeträge in deren technische Ausrüstung gesteckt haben. Das sind Investitionen, die ebenfalls nachhaltig Wirkung zeigen werden. Zudem hat das Jahr eine Art Schutzschild über die Kultur gelegt. Denn gerade im Kulturhauptstadtjahr wollte man umso mehr verhindern, dass Kultureinrichtungen geschlossen werden müssen. Das war auf jeden Fall ein schöner Nebeneffekt.
Trotz dieses Schutzschildes war die Finanzierung der Kulturhauptstadt dank der Finanzkrise alles andere als einfach. Wie hat sich das in Bochum ausgewirkt?
Townsend: Wir hatten im Vorfeld für das Kulturhauptstadtjahr ein stringentes flächendeckendes Konzept entwickelt. Geplant war dafür ein Budget, das summa summarum etwa 60 Millionen Euro erfasste. Dann fiel aber exakt in die Zeit der Vorbereitung der Einbruch der Kommunalfinanzen. Eine Stadt wie Bochum wird die globale Finanzkrise, wenn alles abgewickelt und abgerechnet sein wird, insgesamt etwa eine dreiviertel Milliarde Euro gekostet haben. Das war ein harter Schlag für eine Stadt, die sich ja ohnehin im Strukturwandel befindet. Diese Situation machte natürlich auch die Finanzierung der Kulturhauptstadtaktivitäten äußerst schwierig. Bei vielen Projekten wurde in Frage gestellt, ob sie überhaupt realisiert werden können. Das Kulturhauptstadtjahr ist ein unglaublicher Kraftakt gewesen. Da musste Überzeugungsarbeit geleistet werden, da mussten die rechtlichen Bedingungen von Nothaushalten eingehalten und geprüft werden. Auch die Akquise externer Mittel aus der Wirtschaft wurde sehr erschwert, da Fördermittelstrukturen nicht mehr wie gewohnt gegeben waren. Wir haben alle gemeinsam gekämpft. Und im Nachhinein konnten tatsächlich sogar mehr Projekte realisiert werden, als wir ursprünglich in der Planung gehabt hatten.
Sie haben das Musikzentrum Bochum als eines der nachhaltigen Projekte genannt. Sie werden nicht müde zu erklären, warum wir ein solches Musikzentrum trotzdem brauchen. Erklären Sie diese Meinung noch einmal?
Townsend: Aber klar. Wichtig zu wissen ist zunächst, dass ursprünglich vor allem geplant war, eine Spielstätte für unsere Bochumer Symphoniker zu schaffen. Sie sind das einzige Orchester in der Ruhrregion, das rein konzertant auftritt, während fast alle anderen Orchester zum Beispiel nebenbei fürs Musiktheater spielen. Die Bochumer Symphoniker werden zu Gastspielen in international wichtige Konzerthäuser eingeladen. Mit Steven Sloane verfügen sie außerdem über einen Generalmusikdirektor, der das Spektrum dessen, was ein Orchester leisten kann, sehr stark erweitert hat. Steven Sloane ist in der Lage, eine Riesenveranstaltung wie !Sing – Day auf Song in der Arena auf Schalke zu machen und eine Woche später ein hoch ambitioniertes Hans-Werner Henze Projekt. Unser Orchester ist daher für alle großen spannenden innovativen Produktionen gut. Darüber hinaus hat es starke Ambitionen im Bereich Education. Das geht von der Orchesterakademie für Nachwuchskräfte bis hin zu Besuchen in Schulen, um die Stadt mit Musik und künstlerischer Kompetenz zu versorgen.
Alles in allem sind die Bochumer Symphoniker also ein qualitativ herausragendes Orchester.
Townsend: Genau. Und dieses Orchester spielt derzeit fast nur in Räumen, die akustisch unzureichend sind: Das Audimax ist kein akustisch optimierter Raum, das Schauspielhaus Bochum ist ein Sprechtheater und daher mit einer völlig anderen Akustik ausgelegt. Das ist einer der Gründe, warum die Bochumer Symphoniker viele Produktionen in den Nachbarstädten spielen, die über entsprechende Konzertsäle verfügen. Also zum Beispiel die Philharmonie in Essen oder das Konzerthaus in Dortmund. Wenn man dieses Orchester aber auf dem Stand halten und weiterentwickeln will, braucht es zunächst mal einen Arbeitsplatz.
Aber steht ein solches Zentrum dann nicht trotzdem zu sehr in Konkurrenz zu den Konzerthäusern in Essen und Dortmund?
Townsend: Nein. Während in anderen Konzerthäusern in der Region vorrangig Gastspiele stattfinden, würde der Konzertsaal des Musikzentrums zu einem hohen Prozentsatz durch die Bochumer Symphoniker selbst belegt. Das alleine unterscheidet das Musikzentrum schon von den anderen Konzerthäusern.
Darüber hinaus haben wir das Konzept in Zusammenarbeit mit dem Kultusministerium jetzt noch einmal erweitert, da wir nebenan in der Marienkirche auch eine kleinere musikalische Veranstaltungsfläche schaffen wollen. Insgesamt sollen hier unterschiedlichste musikalische Akteure und Musikrezipienten bedient werden. Neben Proben und Produktionsbetrieb der Bochumer Symphoniker wird das Zentrum Platz bieten für Konzerte des Jugendsymphonieorchesters der Musikschule, für die in Bochum sehr starke Chorszene, die ebenfalls eine Heimat braucht. Und für Bereiche wie zum Beispiel Jazz, die in Bochum insgesamt entwicklungsbedürftig sind und für die man ebenfalls eine Aufführungsstätte benötigt.
Hat das Musikzentrum auch eine wichtige Rolle für die Entwicklung des ViktoriaQuartiers – eines der Kreativquartiere in Bochum?
Townsend: Ja, dadurch dass das Musikzentrum schon so viele Jahre im Gespräch ist, hat es eine gewisse Schlüsselfunktion in der öffentlichen Wahrnehmung. Das ViktoriaQuartier hängt nicht allein von einer Einrichtung ab, aber das Musikzentrum hat eine ganz wichtige Signalwirkung. Deshalb sind wir auch sehr froh, dass nun eine Realisierungsperspektive besteht.
Dieses Musikzentrum wird fünf Fußminuten vom Schauspielhaus entfernt liegen. Neben der Entwicklungsfläche um den Katholikentagsbahnhof – der ist im Moment ja ein Avantgardekunst-Ort. Gegenüber dem Bermudadreieck als einer der größten zusammenhängenden Gastronomiefläche in der Region. In der Nähe der renommierten Bochumer Schauspielschule, die von Folkwang betrieben wird. Und das alles mitten in der Stadt. Von der Hochkultur bis zur Szenekultur, das ist der Humus, auf dem Kreativwirtschaft wächst. Das ist genau der Standort, an dem so etwas sinnvoll entsteht. Da, wo kreative Menschen mit einer gewissen Konzentration tätig sind – und im ViktoriaQuartier sind es Hunderte, mit künstlerischem Personal haben wir alleine rund 400 Leute im Schauspielhaus, 120 Leute im Orchester, 150 fest beschäftigte Musiklehrer in der Musikschule… – entsteht eine ganz bestimmte Atmosphäre mitten in der Stadt.
Damit wären wir dann auch schon bei der Frage, welche Bedeutung dieses Kreativquartier wiederum für die Stadtentwicklung von Bochum hat.
Townsend: Wir haben in Bochum die spezielle Situation, dass wir das ViktoriaQuartier nicht auf einer Brache am Rand der Stadt entwickeln, sondern mitten im Herzen der Stadt. So hat das Kreativquartier auch für die Innenstadt eine wichtige Bedeutung. Die Innenstädte leiden ja unter gewissen Austrocknungstendenzen, Geschäftsfelder im Einzelhandel wandern auf die grüne Wiese. Mit einer kulturellen Belebung der Innenstadt setzt man auch Impulse, die für den in der Innenstadt befindlichen Einzelhandel von Bedeutung sein können.
Andererseits sind wir auch der größte Wissenschaftsstandort in der Region. In absehbarer Zeit werden wir um die 70.000 Hochschulangehörige haben. Und dafür brauchen wir ein Umfeld, das eine kulturelle Attraktivität und damit verbunden ein ganz bestimmtes Lebensgefühl auslösen kann. Wenn man sich das unter Wirtschaftsförderungsaspekten ansieht, ist unsere Zielperspektive, dass die Universität nicht nur Durchlauferhitzer für eine studentische Ausbildung in der Region ist, sondern dass die Menschen auch hier wohnen bleiben, dass die sich hier wohlfühlen.
Und da ist Kultur das Allheilmittel?
Townsend: Natürlich nicht. Dafür sind auch andere Sachen wichtig: bezahlbare Wohnungen, Jobs und so weiter. Die ersten Stadtforscher gehen aber mittlerweile davon aus, dass die Entscheidung für eine bestimmte Region oder Stadt heute von anderen Gesichtspunkten abhängt als früher: Während man früher einen Job suchte und dann in die Stadt ging, wo der Job war, hängen heute solche Entscheidungen vor allem in der Familiengründungs- und Berufseinstiegsphase sehr stark davon ab, dass man erst eine Stadt oder Region wählt und sich dann dort einen Job sucht. Unter Stadtentwicklungsaspekten kann man diskutieren: Was braucht man in einer Stadt? Man braucht eine Quartiersstruktur mit Lebensmittelladen, Kindergarten, einer Schule, einem Park, einem Spielplatz und was alles für den Lebensalltag dazugehört. Dafür kann ich aber auch in ein Dorf ziehen. Was zum Lebensgefühl mit dazugehört, ist eine über diesen Quartieren stehende Urbanität, eine urbane Struktur. Und die gewinnt aus meiner Sicht zunehmend an Bedeutung.
Welchen Grund würde es neben der Existenz der genannten Quartiersstrukturen Ihrer Meinung nach also geben, der einen dazu bewegt, in Bochum zu bleiben?
Townsend: Bochum bietet keine Puppenstubenaltstadt oder Fachwerkkulisse. Aber Bochum hat andere Qualitäten, die man entwickeln und nach außen deutlich darstellen muss. Und da kann die Bedeutung von Kultur gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dazu gehört das selbstorganisierte studentische Theaterfestival genauso wie das Schauspielhaus, das kommerziell veranstaltete Zeltkulturfestival am Kemnader See genauso wie das immer wieder kurz vor der finanziellen Austrocknung stehende Theater an der Rottstraße. Dazu gehören die Institutionen, die kulturelle Vermittlung und kulturelle Arbeit mit Jugendlichen machen: das junge Schauspielhaus, die Art Monkeys im Rahmen der Museumspädagogik. Und so weiter.
Inwiefern kann und darf eine Stadt in Punkto Kreativquartiere fördernd eingreifen?
Townsend: Nur bedingt. Wenn man mal die Bereiche zusammennimmt, die für das ViktoriaQuartier bedeutsam sind – Wissenschaft, Einzelhandel, Kreativität, Lebensqualität, kommunale Infrastruktur, Gastronomie – dann kriegen Sie eine Melange, die sich gar nicht systematisch und willentlich auf irgendeiner freien Fläche entwickeln lässt, sondern für die Sie eine Basis brauchen. Und dann gibt es eben Entwicklungstendenzen, die kommen ohnehin von alleine. Nur die Thematisierung des ViktoriaQuartiers als Kreativquartier hat schon dazu geführt, dass sich im sogenannten „Viertel vor Ehrenfeld“ eine sehr bunte Mischung an Menschen niederlässt.
Das heißt, man kann immer nur fördern und könnte nicht von oben aufgesetzt ein Kreativquartier kreieren.
Townsend: Das würde nie funktionieren. Auch der Begriff der „Gentrification“ spielt eine Rolle. Da muss man sehr behutsam mit umgehen. Aus lebendigen Vierteln mit Alt und Neu kann man nicht hoch gelackte, glatte, artifizielle Strukturen machen. Dann ist der kreative Spirit da raus. Man muss höllisch aufpassen, dass man da keine Fehler macht. Und deshalb passt ein rougher Katholikentagsbahnhof als Ort avantgardistischer, studentischer Kultur sehr wohl neben eine etablierte Kulturinstitution. Um Lebendigkeit zu bekommen, braucht man beides.
Kultur wird in der Region oft als weicher Standortfaktor gehandelt, aber darüber hinaus auch als harter ökonomischer Faktor. Wie ist Ihre persönliche Meinung dazu?
Townsend: Ich habe mich schon immer dagegen gewehrt, dass man sagt, Kultur sei nur als weicher Standortfaktor wichtig. Da geht man ja davon aus, Kultur würde nur durch eine gewisse Umweg-Rentabilität wichtig. Kultur ist aber sowieso erst einmal ein Wert an sich – das kann man gut finden, das kann man schlecht finden, aber wirklich leugnen kann das keiner. Denn das zweckfreie Auseinandersetzen mit einem geistigen Thema auf einer ästhetischen Ebene kriegen Sie eben nur in den kulturellen Institutionen. Trotzdem sind natürlich auch die Nebeneffekte wichtig. Das sind zum einen die weichen Standortfaktoren. Wo leben qualifizierte Menschen gerne? Genau da, wo sie eine anregende kreative Umwelt finden. Und auch für die Leute, die bereits in einer Stadt leben, ist dieses Umfeld wichtig, damit sie ihren Job gut machen. Wer über seinen Fachhorizont guckt, wird auch eher zum Leistungsträger in der Wirtschaft. Und dafür braucht man ganz eigene Erlebens- und Diskursmöglichkeiten in der Stadt, in der man lebt.
Und da kann das im Strukturwandel befindliche Ruhrgebiet „Kohle machen“?
Townsend: Momentan haben wir die starken Zuwächse in Düsseldorf und in Köln. Da passiert was, da ist was los, da gibt es Lebensqualität, da findet man einen Job – und genau mit diesen Städten der Rheinschiene stehen wir im Wettbewerb. Den können wir nur bestehen, wenn wir mit unseren spezifischen Qualitäten – dazu gehört nicht nur Kultur – wettbewerbsfähig sind. Insofern hat das natürlich auch wirtschaftliche Auswirkungen. Aber diese gehen noch weiter: Was die manuelle Fertigung von Industrieprodukten anbelangt, werden wir vom Lohnniveau und den Lebenshaltungskosten in Mitteleuropa dauerhaft kaum mit aufstrebenden Schwellenländern konkurrieren können. Was uns den Vorteil bringt, sind Technologie, Knowhow und Kreativität. In diesen Dingen werden wir international bestehen können.
Noch einmal zurück zu den Kreativquartieren: ViktoriaQuartier versus Rottstraße. Da kann man sich fragen, ob es eher ein Mit- oder ein Gegeneinander ist.
Townsend: Dass es in gewisser Hinsicht ein Miteinander ist und das eine ohne das andere nicht bestehen könnte, kann man am Beispiel des Theaters an der Rottstraße sehr deutlich sehen. Dieses Theater gäbe es nicht ohne das Bochumer Schauspielhaus. Das Theater an der Rottstraße ist ja keine Amateurbühne. Die Protagonisten dieses Theaters und auch die Gäste, die dort auftreten, sind professionelle Schauspieler, die ihren Lebensunterhalt entweder im Schauspielhaus oder mit Filmrollen verdienen. Da spielt eben Lena Schwarz Tschechow. Das sind Dinge, die können sich nur im Windschatten etablierter Strukturen entwickeln.
Etablierte Institutionen und freie Szene können also förderlich füreinander sein, weil sie sich gegenseitig befruchten…
Townsend: … und trotzdem ist diese Sicht idealtypisch. Natürlich geht das nicht konflikt- und bruchfrei. Natürlich gibt es Interessensgegensätze. Wenn wir als Stadt hohe Subventionen in etablierte Kultureinrichtungen stecken, bluten aufgrund der finanziellen Situation in der öffentlichen Förderung freie Initiativen momentan aus. Das ist ein Riesenproblem, das man nicht schön reden darf. Ich würde mir wünschen, dass wir der gesamten freien Szene einfach mal einen 10prozentigen Förderzuschlag geben könnten. Damit die wieder ein bisschen durchatmen können. Sie haben in den letzten Jahren Personalkostensteigerungen, Steuersteigerungen, Energiekostenpreissteigerungen usw. aus der bestehenden Substanz finanziert. Das geht auf Dauer nicht gut. Die etablierten Institutionen, die trotz Subventionierung immer noch unterfinanziert sind, haben die Probleme natürlich auch. Und wenn man mal überlegt, was die für Fixkosten allein schon aufgrund der Energieversorgung, des Facility Managements etc. haben, sind es letztlich nur 20 bis 30 % der Subventionen, die unmittelbar in den künstlerischen Betrieb gesteckt werden. Wenn dann Mittel gekürzt werden, geht das immer zu Lasten der Kunst, weil die Fixkosten ja weiter gedeckt werden müssen. Da muss man sich irgendwann fragen, ob es Sinn macht, den ganzen Apparat zu halten, wenn die Kunst dabei immer weniger wird. Im Ganzen gibt es schon eine sehr sachliche und solidarische Diskussion.
Verfolgen wir noch einmal den Gedanken, dass Institutionen sich gegenseitig fördern und befruchten: In Bezug auf das Musikzentrum kann man ja auch sagen, dass das Musikzentrum gefördert wird und dass dieses Musikzentrum dann indirekt wiederum kleinere Institutionen fördert, indem es Räume und Infrastrukturen bietet.
Townsend: Das kann man so sagen und das ist auch extrem wichtig. Die Musik ist da auch noch ein Sonderfall. Deutschland ist das Land der Musikschulen. Wir haben abertausende von Kindern, die ein Musikinstrument lernen. Diese Kinder und Jugendlichen finden Sie aber oft gar nicht in den Konzerten. Im Theater ist das ganz anders. Wer als Jugendlicher Theater spielt, der ist zum Beispiel auch im Bochumer Schauspielhaus zuhause. Die Suche nach einem Missing Link zwischen der pädagogischen Basisausbildung zur professionellen musikalischen Spitzenleistung kann durch eine Einrichtung wie dem Musikzentrum geschlossen werden. Wenn Jugendliche dort sowohl in der Rezeption als auch der eigenen musikalischen Produktion vertreten sind. Für einen Jugendlichen, für den der Aufenthalt in einem Theater oder Konzerthaus zum Lebensalltag gehört, wird das auch dauerhaft zum Habitus.
Was Sie da eben beschrieben haben ist doch – auch wenn Sie den Begriff nicht explizit genannt haben – genau das, was kulturelle Bildung verfolgt?
Townsend: Ja, genau. Die kulturelle Bildung hat ja ganz viele Funktionen. Das fängt an bei Fragen wie: Geh ich mal ins Theater? Geh ich mit meinen Kindern zum Weihnachtsmärchen ins Schauspielhaus? Gehe ich mit meinen Kindern vielleicht auch mal in ein kleineres experimentelles Kindertheater? Und das setzt sich fort im Erlernen von Musik, im Auseinandersetzen mit Bildender Kunst. Denn die Wirkung des Ästhetischen geht in vielen Punkten sehr viel tiefer als der Erwerb kognitiven Wissens. Ich will das am Beispiel der Bildenden Kunst deutlich machen. Kinder und Jugendliche werden heute von Bilderwelten überflutet. Um damit vernünftig und emanzipiert umgehen zu können, muss man eine gewisse ästhetische Erfahrung gewinnen. Ein anderes Beispiel ist das Next Generation Projekt des Schauspielhauses, welches solchen Jugendlichen, die bislang Verlierer auf dem Arbeitsmarkt waren, die Möglichkeit bietet, die Geschichten ihrer Biographien zu erzählen, eigene neue Ausdrucksmöglichkeiten für sich zu finden, neue Perspektiven und auch Lebensperspektiven zu entwickeln. Mit Hilfe der Kunst kriegen diese Jugendlichen einen völlig anderen Zugang zu sich, zu unserer Gesellschaft, und damit auch zu unserer Stadtgesellschaft. Die Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen, die sich intensiv mit künstlerischen Themen auseinandersetzen, bleibt davon natürlich nicht unberührt. Das gilt genauso für die Jugendlichen, die zum Beispiel an dem Streetart-Projekt Urbanatix beteiligt sind. Als Primäreffekt lernen die Kinder und Jugendlichen originäre Kreativität, als Sekundäreffekt so etwas wie Erfolgserlebnisse, Disziplin, Selbstorganisation, emotionale Intelligenz.
Wie bedeutsam ist kulturelle Bildung für eine Stadt?
Townsend: Ich glaube, dass Kunst und Kultur für die Stadtgesellschaft von herausragender Bedeutung ist, weil sie uns helfen kann mit Fragen umzugehen, die geradezu von schicksalhafter Bedeutung sind. Wenn wir das Beispiel Interkultur nennen: In der Ruhrregion gibt es Städte, wo deutlich über 50 % der Erstklässler Kinder mit ausländischen Wurzeln sind. Das ist zukünftig sogar eher die Regel als die Ausnahme. Diese Kinder sind entweder schon hier geboren, haben aber trotzdem noch die traditionellen kulturellen Klammern ihrer Herkunftsfamilie, oder sind selbst noch in anderen Ländern geboren. Wie erfolgreich wir mit dieser Diversität in unserer Gesellschaft und auch unserer Stadtgesellschaft umgehen, wird ein ganz wesentlicher Faktor sein. Da ist das Ruhrgebiet mit seinen Migrantenquoten ein bisschen so etwas wie ein Experimentierfeld, wo Konzepte entwickelt werden können, die bei der Lösung solcher Probleme enorm helfen. Das ist auch einer der Gründe, warum Bochum Standort einer Zukunftsakademie Interkultur wird.
Worum geht es denn genau bei der Zukunftsakademie?
Townsend: Es geht darum als Think Tank zu funktionieren. Die Zukunftsakademie soll Konzepte entwickeln, sowie den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs beeinflussen und vorantreiben. Das ist der eine Teil. Der zweite Teil ist – und das unterscheidet die Akademie von anderen Diskursorten – dass in der künstlerischen Praxis vor Ort Best Practice Beispiele entwickelt werden sollen. Musterbeispiele sind solche Projekte wie X-Vision, Next Generation, Urbanatix.
Das heißt, da kann auch eine starke Verzahnung zwischen Ausprobieren einerseits und wissenschaftlicher Entwicklung oder Auswertung andererseits stattfinden?
Townsend: Ja, genau, die dritte wichtige Aufgabe ist die, dass die Zukunftsakademie eine Forschungseinrichtung sein soll. Und auch als Serviceeinrichtung fungieren soll, die anderen Institutionen das KnowHow anbietet, das diese zum Aufbau von Interkulturprojekten brauchen. Diese drei Aufgaben, Diskurs, Best Practice, Forschung, soll die Zukunftsakademie für das ganze Land NRW beispielhaft erfüllen.
Hat die Kommune eine Verantwortung dafür, kulturelle Bildung zu fördern?
Townsend: Ich will mal anders anfangen. Bochum hat ja schon lange eine Musikschule. Und diese ist auch die Wiege des Projekts „Jedem Kind sein Instrument“. Daran sieht man schon mal implizit, welche Bedeutung eine solche Einrichtung haben kann.
Wenn man mit qualifizierten Fachkräften arbeiten will, um kulturelle Bildung zu fördern, geht das nur in Ausnahmefällen mit rein kostendeckenden Strukturen. Wenn Sie solche Projekte also nicht sozial selektieren wollen, brauchen Sie folglich die öffentliche Subvention. Das gilt für alle Bereiche – nicht nur die kulturelle Bildung: Was zum Beispiel eine nicht subventionierte Theaterkarte kosten würde, können Sie ungefähr der Preisstruktur eines kommerziellen Musicals entnehmen. Während Sie in Bochum zwischen 15 und 30 Euro für eine Theaterkarte zahlen, kostet eine Karte im Musical 100 Euro. Was das für Schwellen zum Zugang zu Kunst und Kultur bedeutet, kann man sich vorstellen. Und das erklärt dann auch, warum eine öffentliche Subvention für eine Kulturszene zwingend ist.
Das bedeutet also, dass jede Subventionierung von Kultur letztlich auch eine Subventionierung kultureller Bildung darstellt.
Townsend: Das kann man in der Tat so sagen.
Erst kürzlich zitierte die WAZ Ernst Hugo Käufer, der noch einmal nachdrücklich forderte, dass wir ein Literaturhaus in NRW brauchen. Und das, so meinte er, müsste eigentlich auch nach Bochum. Wäre das nicht die konsequente Ergänzung des kulturellen Lebens in Bochum?
Townsend: Es wird ja immer gesagt, die Stadt Bochum ist die einzige Stadt mit einem Buch im Wappen. Das ist ganz witzig als unterstützendes Argument. Es ist aber ein etymologischer Irrtum. Das Wort Bochum stammt von dem Wort Buche ab und irgendwann hat sich dann mal einer vertan und ein Buch ins Wappen getan – das aber mehr als witzige Geschichte am Rande. Literatur tut der Stadt natürlich auch sehr gut. Wir haben schon mehrfach einen Anlauf zum Thema Literaturhaus NRW genommen. Wir hatten bislang nur das Problem der fehlenden Finanzierungsstruktur. Dabei wäre so ein Literaturhaus gemessen an dem, was andere Einrichtungen kosten, gar nicht so teuer. Sie brauchen ein bisschen räumliche Infrastruktur und Menschen, die sowohl eine solche Einrichtung betreiben können, als auch über eine Vernetzungsstruktur verfügen: zu Verlagen, zu Literaten. Es gibt ja das Literaturbüro in Gladbeck, das hochkompetent von Gerd Herholz geleitet wird und international vernetzt ist. So eine Ankerpersönlichkeit braucht man auch. Wenn Sie solche Strukturen erst aufbauen müssen, gehen Jahre ins Land. Und es wird eigentlich dringend Zeit, dass so etwas hier entsteht, weil die Lesereisen der großen internationalen Verlage am Ruhrgebiet eher vorbei gehen. Da muss was passieren und wir haben das auch im Auge. Klar fehlt uns das Literaturhaus noch im Sortiment.
Damit wären dann alle Kultursparten in Bochum gut abgedeckt, oder?
Townsend: In der Tat. Wenn wir auch noch ein Literaturhaus in Bochum bekommen, werden die Nachbarstädte allerdings vielleicht ein bisschen komisch auf uns schauen. Weil wir sowieso schon in diesen Zeiten schwieriger Haushaltslagen expansive Kulturpolitik betreiben. Da fragt schon der eine oder andere mal: „Sag mal, habt ihr eigentlich so ne Druckmaschine im Keller, oder was?“
Es wird ja immer wieder von Konkurrenz der Ruhrgebietskommunen gesprochen und dass es ein Problem ist, dass nicht alle an einem Strang ziehen. Ist nach Ihrem Empfinden ein solches Konkurrenzdenken da?
Townsend: Ich glaube, man muss das gar nicht immer so negativ ausdrücken. Zum einen sind wir als Gesamtregion in der Wahrnehmung durch das Kulturhauptstadtjahr einen ganzen Schritt weitergekommen. Auch vom Selbstverständnis her. Das heißt aber nach wie vor, dass diese Städte, solange sie eben einzelne Städte sind – und es ist momentan nicht absehbar, dass sich das ändert – auch in einem Wettbewerb miteinander stehen. Da geht es um die Ansiedlungen von Wirtschaftsbetrieben, die wiederum mit Einnahmesteuern verbunden sind. Da geht es um Stadtimage. Darum, dass man Standort für bestimmte zukunftsfähige Einrichtungen wird. Dieser Wettbewerb existiert und lässt sich nicht voluntaristisch wegleugnen. Aber das kann ja sehr konstruktiv sein. Das kann auch ein Wettbewerb um die besten Ideen und Konzepte sein.
Apropos Wettbewerb: In der Frage, welche Stadt beim Wettbewerb um den Titel der Kulturhauptstadt für das Ruhrgebiet antreten sollte, gab es ja ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Essen und Bochum…
Townsend: Ja, nur eine Stimme hat uns gefehlt.
… blutete dann nicht doch ein bisschen das Herz, dass es am Ende hieß „Essen für das Ruhrgebiet“ und nicht „Bochum für das Ruhrgebiet“?
Townsend: Nein, ich denke, wir haben das Thema Kulturhauptstadt ganz gut hingekriegt. Auch in der Kooperation mit den Nachbarstädten. Unter den Kulturdezernenten der Städte haben wir gute Verbindungen. Wir arbeiten zusammen und verstehen uns menschlich sehr gut. Wenn man sich das anguckt, haben alle ganz gut profitiert vom Kulturhauptstadtjahr. Dortmund hat das U gekriegt, Essen das Folkwang Museum und das Ruhrmuseum auf Zollverein… so richtig beschweren kann sich eigentlich keine der Städte. Essen hat natürlich den Siegerbonus im Wettbewerb gehabt und ist die Stadt, die international als Kulturhauptstadt kommuniziert wurde. Essen ist aber auch mit dem größten finanziellen Einsatz in das Kulturhauptstadtjahr gegangen. Insofern hat Essen das auch verdient.
Und in Bochum kann ja wirklich kein Mangel an Kultur beklagt werden.
Townsend: Das stimmt. Da haben wir den Westpark mit der Jahrhunderthalle – Hauptspielort der Ruhrtriennale, damit geht’s los. Das Bochumer Schauspielhaus – als eines DER Theater im deutschsprachigen Raum. Die Bochumer Symphoniker als eins der Spitzenorchester in NRW – hoffentlich bald mit einer neuen Heimat. Das Kunstmuseum, die Kunstsammlung der Ruhr-Universität mit der Situation Kunst, den Kunstverein – wir sind auch ein starker Partner in der Vernetzungsstruktur der RuhrKunstMuseen. Wir haben eine starke freie Szene, starke kulturelle Bildungseinrichtungen und den naturwissenschaftlichen Bildungscluster von Planterium und Bergbaumuseum. Da könnte man immer mehr aufzählen.
Das heißt, wir bleiben Kulturhauptstadt?
Townsend: Aber sicher! Das macht die Arbeit hier ja auch so spannend. Das ist natürlich sehr subjektiv, aber ich habe bestimmt das schönste Dezernat hier.