The Art of Music, ein Bericht über die Ghetto Classics, einem Kultur-Projekt in den Slums von Nairobi

The Art of Music, ein Bericht über die Ghetto Classics, einem Kultur-Projekt in den Slums von Nairobi

von Anna-Sophie Brüning, Dirigentin, Initiatorin und Akteurin mehrerer Kulturprojekte im In-und Ausland und Referentin des Musikwochenendes des 15. Jahrgangs des Bronnbacher Stipendiums*

Kannst du vielleicht die Fenster zumachen, frage ich einen jungen Geiger? Großes Gelächter. Hier hat schon viele Jahre niemand mehr ein Fenster zugemacht. Der Wind weht fortwährend alle Notenblätter von den Pulten und der Gestank, der mit dem Wind hereinkommt, ist bestialisch. Den zweiten Stock des Hauses, das die Ghetto Classics beherbergt, kann man nur erreichen, wenn man sich die Nase zuhält. Der Geruch der Toiletten aus dem Erdgeschoss wird jedoch im ersten Stock sofort durch den noch viel schlimmeren Geruch nach brennendem Plastik abgelöst. Ungefähr zwanzig Meter neben dem fensterlosen Probenraum beginnt die grösste Müllhalde Nairobis und die brennt und brennt, soweit das Auge reicht.

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Elizabeth Njoroge, eine Frau, von der alle nur mit grösster Hochachtung sprechen, bringt mich morgens um zehn Uhr in den Slum nach Korogocho. Vor sieben Jahren hat sie die Organisation „Art of Music“ gegründet, die die Ghetto Classics und das National Youth Orchestra of Kenya leitet und finanziert. Die Ghetto Classics arbeiten an zwei verschiedenen Standorten in Slums mit jeweils einigen jungen Lehrern und vielen hundert Kindern. Das Elend von Korogocho verschlägt mir für einen Moment die Sprache. Wir holpern die Strassen entlang, rechts und links auf der Strasse werden Lebensmittel, Fleisch und Bekleidung verkauft, die Ölpfützen mischen sich mit kostbaren Wasser, ein Gefährt, das entfernt an einen Rollstuhl erinnert, transportiert einen alten Mann, Karren voll halben Tieren, Möbeln, Müll. Und Kinder, Kinder, Kinder.

Vor uns hält ein Laster. Elizabeth sagt mir, dass der Fahrer hier jetzt illegal seinen Müll auf der Strasse auskippen wird, weil er ein paar Meter weiter auf der Müllhalde dafür bezahlen müsste. Kurz später wühlen die Kinder, die Jüngsten können gerade laufen, in der neuen Müll-Ladung nach Brauchbarem und versuchen dann das Gefundene an der nächsten Ecke zu verkaufen, dazwischen Ziegen, Hunde, Hühner. Das ganze Plastik-Problem ist riesig. Die Armut ist unvorstellbar, aber wenn ich mir den brennenden Plastikmüll wegdenke und eine bessere Luft vorstelle wäre schon viel gewonnen. Weisse Menschen sieht man hier überhaupt nicht. Alle paar Meter ist die Katholische Kirche präsent. Ein Worship-Center, eine Schule, eine Hilfsstation.

Chris, der Fahrer der Ghetto Classics, erzählt mir, dass die Kirche eine wirklich große Hilfe im Slum ist. Aber es gibt etliche andere Religionen, komplett Verschleierte laufen neben sehr freizügig gekleideten Frauen herum. Ein Problem? Nein, überhaupt nicht! Er erzählt mir auch, dass er früher für eine andere Organisation gearbeitet hat und 03das er immer mitbekommen habe, wie Spendengelder zweckentfremdet wurden. Seit er für „Art of Music“ arbeitet, wisse er aber, das jeder Cent in Instrumente und Unterricht fliesst, und zwinkert mit den Augen: er mache ja schliesslich die Transporte und Einkäufe und wisse genau, wie viele Hörner und Geigen er in seinem Kofferraum habe. Auch die Meetings bei „Art of Music“ seien ganz anders, echte Meetings eben, nicht Anweisungs-Entgegennahme. Ja, Elizabeth sei eine große Ausnahme.

Als wir endlich in St. Johns ankommen, schüttelt Elizabeth alle Hände. Ein Mann kommt auf sie zu und stellt sich vor: ich bin Toothbrush. Wie für die Zähne? Ja, wie für die Zähne sagt er lachend und man sieht seine kaputten Zähne. Er kommt im Auftrag einer anderen Organisation, die ein weiteres Projekt für die Kinder in St. Johns starten möchte. Elizabeth überlegt gleich, wie man wohl mit Toothbrush kooperieren könnte. Das St. Johns Center, erzählen sie, ist der absolut unbeliebteste und unschönste Ort des ganzen Slums. Je besser es den Familien geht, desto weiter entfernt von der brennenden Müllhalde versuchen sie unterzukommen. St. Johns besteht aus einem Bibliotheksgebäude, einem Fussballfeld, einer Schule und einem großen Amphitheater, in dem Veranstaltungen und Gottesdienste stattfinden und eben dem Haus, das die Ghetto Classics beherbergt. Es sind Ferien, trotzdem ist die zweistöckige Bibliothek bis auf den letzten Platz voll mit Kindern und Jugendlichen die über Büchern und Schreibzeug hängen. Das Licht ist so schlecht, dass ich mich frage, wie sie überhaupt etwas sehen oder schreiben können. Es ist absolut still. Umso lauter ist es auf dem Fussballplatz. Elizabeth erzählt mir, dass die „Gang“, die die Müllhalde kontrolliert hier immer Fussball spielt und mit denen müsse man sich gut stellen. Daran ist ihr wirklich gelegen. Noch ein paar Schritte weiter ist ein kleiner Garten, den die Ghetto Classics angelegt haben in der Hoffnung später einmal ein bisschen frische Luft zu produzieren und wenigstens einen Teil der giftigen Luft der Müllhalde zu absorbieren. Der Weg zwischen den Bäumen hat die Form eines grossen Violinschlüssels und alle hoffen, das das kleine Areal nicht auch eines Tages dem Müll zum Opfer fällt.

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Hier haben weit über 200 Kinder und Jugendliche Musikunterricht. Unterrichtet werden so gut wie alle Orchester-Instrumente. Die Instrumente bleiben zur Sicherheit in St. Johns, aber tagsüber können die Kinder sie ausleihen und üben. Heute sind etwa zwanzig Geiger, ein paar Bratscher und Cellisten da, am Nachmittag kommen etwa nochmal so viele. Stephanie Schiller aus Hamburg gibt gerade im Büro Geigen- Unterricht per Skype. Das tut sie jeden Samstag mehrere Stunden, ebenso wie Carolin Wyneken aus Freiburg Cello. Einige stehen drumherum und wollen auch von dem guten Unterricht aus Deutschland profitieren. Musikalischer Besuch aus Europa, wie der von Salut Salon, wirkt lange nach. Die Kinder tragen die Salut Salon T-Shirts und wenn der Name der Geigerin Angelika Bachmann fällt leuchten die Augen. Erst spielen mir die Kinder den Kanon von Pachelbel vor. Als ich sie frage, ob sie lieber daran weiterarbeiten möchten oder etwas Neues lernen wollen, sagen alle: was Neues! Ich habe den Kanon „Mister Bach“ mitgebracht. Den Komponisten Bach kennen alle. Erstmal lernen wir das Stück singen. Alle singen wunderschön und sauber und können sicher Noten lesen! Erst ein, dann zwei, dann drei, dann vierstimmig. Alles kein Problem. Bis zum Nachmittag stehen die Kinder in allen Ecken des Gebäudes herum und üben das Stück auf ihren Instrumenten, die grösseren helfen den kleineren. Überhaupt scheinen hier die Kinder selber die Hauptakteure zu sein. Am zweiten Tag arbeite ich mit zwei verschiedenen Orchestern. Das Stimmen wird von einigen grösseren Kinde04rn geleitet, sie achten auf Ruhe und darauf, dass die Instrumente „with care“ behandelt werden. Im Erdgeschoss, direkt neben den Toiletten probt ein Chor aus ungefähr vierzig Kindern und Jugendlichen gerade das Halleluja von Händel und das klingt nun wirklich fantastisch.

In was für Verhältnissen die Kinder und Jugendlichen leben, wenn sie nicht in St. John sind und die Gewalt der insbesondere die jungen Mädchen ausgesetzt sind, mag ich mir nicht vorstellen. Kummer und Sorgen sprechen aus den großen Augen der Kinder und mischen sich mit dem Glück, dass sie durch die Musik erleben. Dieser Ort ist ein großes Wunder. Am Ende eines langen Tages in Korogocho frage ich mich, ob ich je diesen Gestank wieder aus Nase und Kehle kriege, aber am nächsten Tag merke ich ihn schon fast nicht mehr. Levi Wataka, der Dirigent des Nationalen Kenianischen Jugend-Orchesters sagt, dass sich in den letzten Jahren so viel getan hat unter den jungen Instrumentalisten Kenias, dass die Orchester alle besser sind als ihre Dirigenten. Und das stört ihn sehr. Er selber fährt viel nach Europa, um zu lernen und an Kursen teilzunehmen, aber die nächste Generation liegt im sehr am Herzen. Also machen wir am nächsten Tag zusammen einen Workshop für ungefähr 12 junge Dirigentinnen und Dirigenten im Konservatorium Nairobis. Kevin, ein sehr großer junger Mann dirigiert bis hoch über seinen Kopf hinaus. Um den Radius seines Dirigierens etwas zu verklei05nern, gebe ich ihm den Tip mal in einer Box oder einem Kühlschrank zu üben. Wieder großes Gelächter. Am Abend erklärt Levi mir den Grund für die allgemeine Erheiterung. Kevin und die anderen haben in ihrem Leben noch keinen Kühlschrank besessen. Ich bin beschämt, aber Levi sagt, es sei okay, er würde jetzt davon träumen, einen Kühlschrank zu besitzen, indem er dann Dirigieren üben könne! Die nächsten Tage verbringe ich mit Beethoven, Stravinsky, Tschaikowsky und dem Nationalen Kenianischen Jugendorchester. Wie werden die Ensembles und Orchester besser? Musikalische men (or women)-power aus dem Ausland per Skype oder natürlich noch besser vor Ort ist höchst willkommen. Für das Ermöglichen meines Aufenthaltes geht der Dank an Dr. Maximillian Gege aus Hamburg und den Verein Chancen für Kinder.

Aber was machen all die jungen Musiker, wenn sie aus dem Ghetto Classics Programm herausgewachsen sind? Der einmal geweckte Hunger nach Musik knurrt im Magen. Viele der Anfänger von vor sechs Jahren sind jetzt Tutoren, wollen aber ihrerseits weiterlernen, aber so etwas wie Musik studieren kann man hier nicht. Einige, die den Mut hatten Musiker zu werden, sind jetzt in Europa oder Amerika. Für MusikerInnen aus den afrikanischen Nachbarländern wiederum ist das musikalische Leben Kenias bereits sehr weit entwickelt. Levi träumt von einer Musik-Akademie für ganz Ostafrika.

P.S. Kleiner Nachsatz zum Thema Müll: Kenia hat vor einem Jahr Plastiktüten verboten. Wer auf der Strasse mit Plastiktüte gesehen wird, muss entweder 500 Dollar bezahlen oder ins Gefängnis. Plastikflaschen sollen folgen. Congratulations Kenia!

*Anna-Sophie Brüning studierte Geige, Klavier und Dirigieren. Zu ihren Lehrern gehören R. Kussmaul, S. Ashkenasi und K.-H. Kämmerling. Nach dem Studium war sie einige Jahre als Konzertmeisterin im Philharmonischen Orchester des Hansestadt Lübeck beschäftigt, wechselte dann aber erst in die Korrepetitionsabteilung und später aufs Dirigentenpult. Sie arbeitete mit renommierten Orchestern im In-und Ausland und stand als Operndirigentin u.a. am Pult des Nationaltheater Mannheim, der Komische Oper Berlin, dem Niedersächsischen Staatstheater Hannover, dem Landestheater Innsbruck und einige Jahre als 1. Kapellmeisterin des Landestheater Coburg. Sie war einige Jahre künstlerische Leiterin des Orchesterprojektes von Daniel Barenboim im Nahen Osten. Die mit diversen Preisen ausgezeichnete Musikerin ist Initiatorin mehrere Kulturprojekte im In-und Ausland und vermittelt kulturelle Kompetenz an Hochschulen und in der Wirtschaft.

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Eine Antwort

  1. Gabriela sagt:

    Ein toller Bericht über ein ganz bedetungsvolles Projekt. Im Orchester zählen andere Werte als in ihrer und wohl auch un unsrer alltäglichen Umwelt: wenn jedes an seinem Platz das beste gibt und sich als ein wichtiges Teil des ganzen wahrnimmt erleben alle gemeinsam eine grosse Freude

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