Teil II: Leben wir in einer tauben Gesellschaft?

Teil II: Leben wir in einer tauben Gesellschaft?

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Die Beeinträchtigung unserer Gesundheit durch städtischen Lärm und Beschallung wird oft vernachlässigt, Umgebungslärm als scheinbar notwendig hingenommen. 
Schuld daran sind nicht allein die Architekten und Städteplaner, die dieses Thema meist stiefmütterlich behandeln.  Wie es dazu kam und was wir tun können. Von Stefanie Hirsch.


Ohne im öffentlichen Bewusstsein bisher eine große Rolle zu spielen, sind private und öffentliche akustische Räume von besonderer Bedeutung für die menschliche Gesundheit und das gesellschaftliche Zusammenleben.

Während Teil I des Beitrags die Vernachlässigung der Wirkung von Lärm auf die Lebensqualität zum Thema hatte, widmet sich dieser zweite Teil mit den maßgeblichen Determinanten und Hintergründen der akustischen (Stadt-)Raumgestaltung.

Die von uns wahrgenommene akustische Umgebung ist das Ergebnis des Zusammenspiels von Schallemission und der Schallumgebung; das gilt sowohl für Innenräume als auch für den öffentlichen Raum.


Jeder Bau ist als Instrument, ja gegebenenfalls als Waffe zu begreifen. Als etwas Aktives, das in jedem Fall gestaltend nach innen und nach außen wirkt. Offensichtlich ist, dass bauliches Gestalten zwangsläufig akustisches Gestalten ist, unabhängig davon, ob dies bewusst oder unbewusst geschieht.

(Peter Androsch)

Wie dieses Zitat verdeutlicht, bestimmt die bauliche Gestaltung einer Stadt maßgeblich, wie der vorhandene Schall in andere Räume übertragen, verstärkt oder abgemildert wird. Die prägenden Disziplinen für diese baulichen Rahmenbedingungen sind die Architektur sowie die Stadtplanung. Während das Wissen um die bewusste Gestaltung akustischer Räume durch die eine Disziplin gerade wieder neu entdeckt wird, ist dieses Thema für die andere eher Neuland oder ein Exotenthema.


Die akustische Dimension in der Architektur


Das Buch Tuned City, herausgegeben von Doris Kleilein, Anne Kockelkorn, Gesine Pagels und Carsten Stabenow, widmet sich in diesem Zusammenhang der Architektur. Die im Folgenden angegebenen Referenzen beziehen sich auf verschiedene Artikel daraus. Auf Deutsch und English herausgegeben kommen dort Künstler, Architekten und Wissenschaftler zu Wort. „Akustik – die natürlichste Nebensache der Architektenwelt“ (Bogendorfer, S. 6), „Akustik nervt“ (Kleilein und Kockelkorn, S. 6) und „Der Klang ist kein Qualitätsmerkmal“ (Interview: Brandlhuber und Emde, S. 74). Dies sind nur einige beispielhafte Zitate daraus, die eine weit verbreitete Haltung innerhalb der Architektur zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig basieren viele akustische Erkenntnisse auf Anforderungen an die Architektur (z.B. für die Konstruktion von Amphitheatern oder Kirchen). Doch mittlerweile beschränkt sich der bewusste Einsatz akustischer Gestaltungsmittel häufig auf Funktionsbauten. In einigen Fällen mag vorhandenes Wissen über die Wirkung von Grundriss und Materialeinsatz zu Gunsten der optischen Gestaltung sogar ignoriert werden. Der Bonner Plenarsaal von Günther Behnisch (1992) etwa sollte ein Raum für politische Diskussionen werden. Jedoch ruft sein runder Grundriss, wie bereits seit 1810 bekannt ist, die Reflexion der Schallwellen auf das Rednerpult hervor. Dieses, die Verständigung erschwerende Phänomen wird weiter verstärkt durch die Verwendung schallharter Materialien wie Glas und Beton.

Als Ursachen für diesen Status Quo identifizieren Kleilein und Kockelkorn in ihrem Beitrag (Akustik nervt, S. 6-12) vier verschiedene Entwicklungen:

  • die Entkopplung der Funktionen auf städtebaulicher Ebene,
  • die ästhetisch motivierte Abkehr von gestalterischen und schallmodelierenden Elementen (z.B. Friese, Kapitelle, Kassettendecken, Stuck, Wandverkleidungen, Erker) und bestimmten Einrichtungsgegenständen (schwere Vorhänge, Teppiche etc.),
  • die Entwicklung der Elektroakustik, welche die akustische Schallraumgestaltung von der Architektur unabhängiger machte, sowie
  • die Tatsache, dass alles Planungs- und Gestaltungshandwerk des Architekten auf das Auge als maßgebliches Wahrnehmungsorgan ausgerichtet sind.

Verzicht auf Friese und Co

Verzicht auf Friese und Co


Der letzte Punkt macht deutlich, dass die optische Ausrichtung der Architektur dieser Berufsgruppe bereits methodisch innewohnt. Die heutzutage vorhandenen vielfältigen Möglichkeiten zur nachträglichen akustischen Gestaltung oder auch zur Nachbesserung können gleichzeitig leicht zu der Annahme verleiten, der defensive Umgang mit Lärm sowie die allgemeine Unbedachtheit im Bezug auf die akustische Innenraumgestaltung stellten kein Problem dar.

Jedoch ist nicht alles technisch machbar und zudem sind Nachbesserungsmaßnahmen nicht zuletzt eine Kostenfrage. Die Berücksichtigung der akustischen Dimension als Planungsdeterminante hingegen bringt in weiten Teilen keine Mehrkosten mit sich.

Eine weitere Schwierigkeit der Einbeziehung akustischer Faktoren liegt für Architekten darin, dass dies eine soziale Dimension einschließen würde (Kleilein und Kockelkorn, S. 12). Denn die Frage nach der Raumakustik ist gleichzeitig eine Frage nach der Nutzung des Raumes. Genau auf Grundlage dieser dynamischen Faktoren plädieren Blesser und Salter (S. 14) dafür, dass das von ihnen beschriebene Konzept der Auralen Architektur Teil der gängigen beruflichen Ausbildung von Architekten zu machen. Statt sich auf die Beschreibung schallphysikalischer Eigenschaften zu beschränken, wie im Rahmen der Akustischen Architektur, setzt das Konzept der Auralen Architektur bei der menschliche Erfahrung an. Ziel dieser Ansatz ist daher, alle hörbaren räumlichen Eigenschaften und ihre Wirkung im Architekturstudium zu thematisieren.


Akustisch bewusste Stadtplanung

Das Verhältnis der Stadtplanung zur Akustik ist ähnlich dem der Architektur und wird zudem erschwert durch einen Mangel an systematischen historischen Vorbildern.

Von Anbeginn der Stadtplanung stand der akustische Raum außerhalb des Fokus dieser Disziplin. Dies lässt sich bereits am Ausgangspunkt der bewussten modernen Stadtplanung – der von Cerdà geplanten Stadterweiterung Barcelonas Mitte des 19. Jahrhunderts – ablesen. Seine Leitlinien waren Licht, Luft und Sonne; Ruhe befand sich nicht darunter. Die Erfindung des Automobils, kombiniert mit der durch Le Corbusier 1933 in der Charta von Athen propagierten Funktionentrennung (Wohnen, Versorgen, Arbeiten), führten zur autogerechten und damit extrem lauten Stadt. Aber auch die parallele Entwicklung innerhalb der Architektur, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, hatte über die akustische Außenwirkung von Gebäuden Einfluss auf die Entwicklung des öffentlichen Klangraums. Analog zum Innenraum führen lange gerade Straßen mit parallelen Fronten aus glatten Beton- und Glasoberflächen zu einer Multiplikation allen Schalls, der auf den Straßen entsteht.

Heute: gerade Straßenschluchten

Heute: gerade Straßenschluchten


Die Geschichte der groß angelegten Stadtplanung im modernen Sinne reicht nicht sehr weit zurück. In alten Städten können dennoch nicht parallel verlaufende Häuserfronten, eine Vielzahl an Hausfrontverziehrungen und die Verwendung rauer Oberflächen beobachtet werden. So ist zu vermuten, dass das Wissen um die akustisch positive Wirkung dieser Bauweisen in alten Städten vorhanden war und auch zur Anwendung kam.

Früher: krumme Straßen, raue Fassaden

Früher: krumme Straßen, raue Fassaden


Heutige Maßnahmen zur Verbesserung der städtischen Lebensqualität in akustischer Hinsicht können grob in zwei Kategorien eingeteilt werden:

a) der Einsatz akustisch gestaltender Elemente im öffentlichen Räume und

b) das Einrichten gezielter Rückzugsorte.

Ein aktuelles Beispiel für eine bewusste akustische Gestaltung des öffentlichen Raumes stellt die Neugestaltung des Nauener Platzes in Berlin dar. Dieses im September 2009 fertig gestellte Projekt hat sich in der Planungsphase, an der außer Experten auch Anlieger maßgeblich beteiligt waren, neben der Freiraumplanung und dem Lichtkonzept als dritten Baustein auf Soundscapes und Klang konzentriert. Eingesetzt wurden einerseits bestimmte Audioelemente zur gezielten Nutzung durch die Besucher. Andererseits versuchte man,  die allgemeine Lärmbelastung zu reduzieren und eine sicher wirkende Atmosphäre herzustellen.

Lärmkarte, (c) Stadt Mannheim

Lärmkarte, (c) Stadt Mannheim


Bewusste Nutzung akustischer Räume


Als zweite Determinante unserer akustischen Umwelt gilt es,  die Schallemission zu betrachten. Die größte Schallquelle im öffentlichen Raum ist mittlerweile der Verkehrslärm geworden. Da es sich hierbei, mit Ausnahme von Martinshorn, Hupen und ähnlichem, um ein Nebenprodukt ohne Signalwirkung handelt, ist in diesem Zusammenhang auch das öffentliche Problembewusstsein am größten.

Eine aktive und bewusste Gestaltung der akustischen Umgebung findet am ehesten im halböffentlichen kommerziellen Bereich in Geschäften statt. Über die Schaffung einer bestimmten akustischen Atmosphäre sowie mit Hilfe von Zwangsbeschallung sollen Kunden zum Kaufen oder zum Konsumieren angeregt werden.

Die städtischen Bürger sehen sich daher neben einer Klangüberflutung aus akustischem Abfall im öffentlichen Raum oft auch einer Zwangsbeschallung im halböffentlichen Raum gegenüber.

Parallel dazu ist eine städtische iPod-Kultur entstanden. Der technische Fortschritt hat die Schaffung einer privaten Klangwelt ermöglicht. Immer bessere Kopfhörer und immer kleinere Geräte zum Abspielen von immer mehr Musik ermöglichen eine effektive Abschottung. „Er erfüllt gleichermaßen das Bedürfnis nach Einsamkeit und nach sozialer Nähe“ und „beschleunig[t] die Neutralisierung des städtischen Raums“, beschreibt Michael Bull (S. 80, 82) die Wirkung.

Durch die gezielte Selbstbeschallung schafft der Einzelne sich jedoch nur auf den ersten Blick akustische Freiräume. Die vermeintliche Suche nach Entspannung führt zu einer unbewusst herbeigeführten akustischen Dauerbelastung mit potenziellen Folgen für die Gesundheit.


Wie kann sich etwas verändern?

Die Gestaltung der akustischen Umwelt kann als Spiegel des gesellschaftlichen Bewusstseins für dieselbe betrachtet werden. Ausgehend von dieser These stellt sich die Frage, ob es wirklich Architekten und Stadtplaner sind, denen man die alleinige Schuld für eine weitgehende Nichtgestaltung des akustischen Raumes mit den Mitteln ihrer Disziplinen vorwerfen kann. Von Ihnen als Fachleuten kann man zwar erwarten Alternativen aufzuzeigen, aber als Auftraggeber fungieren je nach Projekt dennoch Bürger, private Institutionen oder öffentliche Einrichtungen.

Um jedoch ihre Marktmacht als Auftraggeber und Kunden richtig einsetzen zu können, müssen Bürger zu Mündigen im Hinblick auf ihre akustische Umwelt werden. Dazu müssen sie sowohl grundsätzlich über die Bedeutung der Gestaltung ihrer akustischen Umwelt informiert sein, als auch Möglichkeiten zur persönlichen Einflussnahme kennen. Genau das hat sich HÖRSTADT zum Ziel gemacht; ein Linzer Projekt, das im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas 2009 entstanden ist, aber nun darüber hinaus weitergeführt wird.

(c) Hörstadt. Verein für Akustik, Raum und Gesellschaft.

(c) Hörstadt. Verein für Akustik, Raum und Gesellschaft.


Mit Publikationen und verschiedensten Aktionen wird über unterschiedliche Themen im Zusammenhang mit bewusstem Hören informiert. Es wird über medizinische Folgen von Dauerbeschallung aufgeklärt und Gestaltungsmöglichkeiten werden aufgezeigt. Auch Betriebe und Einrichtungen aller Art konnten für die Aktion gewonnen werden und sind nun weitgehend beschallungsfrei. Den Bürgern werden Möglichkeiten aufgezeigt, selbst aktiv zu werden; sich z.B. im Falle störender Zwangsbeschallung zu beschweren oder aber ein Lob auszusprechen, wenn ein Geschäft keine Musik in seinen Räumlichkeiten nutzt.

(c) Hörstadt. Verein für Akustik, Raum und Gesellschaft.

(c) Hörstadt. Verein für Akustik, Raum und Gesellschaft.


Eine ausgeprägte Kultur des Widerstands gegen Zwangsbeschallung gibt es auch in Großbritannien; „piped music“ und „No Muzak“ sind die beiden bekanntesten in diesem Bereich aktiven Organisationen.

CittaSlow (analog zu Slow Food) setzt sich allgemein für einen stärkeren Fokus auf städtische Lebensqualität, unter anderem ebenfalls für bewusstes Hören und gegen ständige Beschallung, ein.

Neben den Bürgern ist der Staat der zweite Akteur mit bedeutendem Einfluss auf die Entwicklung des akustischen Raums; durch gesetzliche Regelungen bezüglich der Nutzung und Gestaltung, in Form von Unterstützung für entsprechende Forschung und Bildung, sowie durch sein eigenes Auftreten als Auftraggeber.

Eine mögliche Grundlage für das politische Tätigwerden des Staates besteht in der Fürsorgepflicht, die er seinen Bürgern gegenüber hat. Einen zweiten Grund stellen die erheblichen durch gesundheitliche Schäden verursachten volkswirtschaftlichen Kosten dar.

Ein Beispiel für eine umfassende Lärmschutzgesetzgebung bietet die Schweiz. Dort werden u.a. Teile der Lärmkosten internalisiert. Auf Basis des Verursacherprinzips erhöhen sich die Baukosten für lärmintensive Projekte, wie zum Beispiel Schnellstraßen in der Umgebung von Wohnsiedlungen.

Auch Linz verfolgt über das Jahr 2009 hinaus das Ziel, das Hören als einen Kernbereich in seine Politik zu integrieren. Mit der Linzer Charta lädt die Stadt andere Gemeinden dazu ein, es ihnen gleich zu tun.


Leben wir in einer tauben Gesellschaft?

Die Bezeichnung der Architektur sowie der Stadtplanung als „taube“ Disziplinen ist vielleicht nicht falsch, aber dennoch irreführend. Denn die Entwicklung bis zum Status Quo war nur im Rahmen einer „tauben“ Gesellschaft möglich. Die Verantwortung für die mangelnde Gestaltung des akustischen Stadtraumes teilen sich daher die beteiligten Akteure; darunter die Fachleute, Bürger, Institutionen wie auch der Staat.

Um eine akustisch aufmerksame Gesellschaft zu schaffen, muss sich die Bevölkerung in diesem Feld zu einer Gruppe mündiger Bürger entwickeln. Dazu ist neben dem Problembewusstsein auch das Wissen um Möglichkeiten der Beeinflussung des städtischen Klangraumes und seiner Nutzung nötig. Einen maßgeblichen Beitrag dazu leisten unter anderem die beispielhaft angeführten Projekte HÖRSTADT und CittaSlow.

Bislang sind lediglich Tendenzen in diese Richtung erkennbar. Eine Gefahr besteht in der Entwicklung einer akustischen Zwei-Klassen-Gesellschaft entlang einer ökonomischen Trennlinie. Eine solche zu verhindern ist Aufgabe des Staates, aber ebenso der Zivilgesellschaft.

 

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