Strollogy*
Ein Bronnbacher_Blick auf die documenta 14
von Franziska Roth, Bronnbacher Alumna
Ich laufe auf sie zu, eine kleine, zierliche Frau mit kurzen Haaren. „Hi, ich bin Franzi. Bist Du heute meine Chorleiterin?“ Sie lacht, „ja das bin ich wohl, dann warten wir mal auf die anderen.“ Am Ende ist unser Chor eine bunte Gruppe: mein Mann, eine Mutter mit ihrem erwachsenen Sohn und dessen Partnerin, ein älteres Ehepaar. Jeder von uns hat eigene Erfahrungen, Wissen, Einstellungen mitgebracht. Jeder von uns sieht Kunst anders. Und wir alle sind mehr oder weniger bereit, das mit der Gruppe zu teilen. Wir sind nun ein Chor und gemeinsam werden wir für die nächsten zwei Stunden die Kunst auf der documenta entdecken; durch Diskussion und Austausch.
Wenig später stehen wir vor dem Kunstwerk „Slumber“ von Janine Antoni. Ein medizinisches Gerät (später fanden wir heraus, dass es ein Elektroenzephalograf war, der im REM-Schlaf Augenbewegungen misst) mit ausgedruckten Linien auf Papier, ein riesiger Webstuhl mit gewebtem Stoff, darunter ein Bett. Einige Assoziationen: Sie erschafft Dinge im Schlaf. Sie hat einen Weg gefunden, ihre Träume darzustellen und festzuhalten. Im Prinzip zeigt sie uns so das Unbewusste. Aber was ist denn das Bewusste eigentlich? Sie verbindet das männlich-medizinische mit dem feminin-textilen. Dann fangen wir an über Penelope und Ulysses zu sprechen. Aus Fremden ist ein Chor geworden, wir singen gemeinsam eine Interpretation, mal harmonisch, mal disharmonisch. Es ist ein Bronnbacher Moment im 1. Stock des Fridericianums.
Wir ziehen weiter, Kunstwerk nach Kunstwerk. Am Ende sitzen wir alle in einem dunklen Raum und sehen „Raft“ von Bill Viola. Menschen wie wir stehen dort auf der Leinwand, warten als wären sie durch Zufall vereint, alles Zeitlupe. Und dann kommt die Welle. Ich sehe mich um, die meisten Menschen um mich herum haben die Hände vor den Mund geschlagen, die Augen aufgerissen. Es sind nur Menschen und Wasser zu sehen, doch das genügt. Draußen kommen dann die Assoziationen: Flüchtlingskrise, Wasserwerfer, Hamburg, Schicksalsschläge, Katastrophe, Leben, Alltag, Kunst, Unsicherheit. Unser Chor steht im Kreis, wieder singen wir gemeinsam eine Interpretation. Es wird die letzte gemeinsame in unserem Leben sein. Wir sehen uns noch einmal an, dann gehen wir getrennte Wege. Und sind wieder Fremde. Oder nicht?
* Strollogy: In den ‘80er Jahren entwickelte Lucius Burckhardt eine kulturwissenschaftliche und ästhetische Methode (Strollogy: Spaziergangswissenschaft), die darauf zielt, die Bedingungen der Wahrnehmung der Umwelt bewusst zu machen und die Umweltwahrnehmung zu erweitern. Sie basiert sowohl auf einer kulturgeschichtlichen Analyse von Formen der Umweltwahrnehmung als auch auf experimentellen Praktiken zur Umweltwahrnehmung wie reflexive Spaziergänge und ästhetische Interventionen. (Quelle: www.wikipedia.org)