Mehr als nur Kulturprogramm: Das Bronnbacher Stipendium ist Leadership-Ausbildung

Mehr als nur Kulturprogramm: Das Bronnbacher Stipendium ist Leadership-Ausbildung

Simon Müller

Wir sitzen im Halbkreis, einige haben die Augen geschlossen. Mein Rücken schmerzt im Schneidersitz, ich lege mich hin, lausche den Klängen. 

Zwanzig Studenten hören “Les Nuits” der britischen Elektrogruppe Nightmares on Wax. Die Stereoanlage ist nicht sehr gut, die Höhen verschwimmen. Doch sie genügt, um den Raum musikalisch vollkommen auszufüllen.

Der Künstler Carsten Fock hat uns aufgefordert, mit der Stipendiaten-Gruppe ein Lied zu teilen, das eine besondere emotionale Bedeutung für uns hat. Jetzt also bin ich an der Reihe.

Für 3 Minuten und 36 Sekunden hat dieses Lied – mein Lied – die unbegrenzte Aufmerksamkeit der anderen.

Es endet. Intensive, unangenehme Stille. Ich werde rot, zumindest bilde ich mir das ein. Ich spüre, dass ich gerade etwas sehr Privates über mich Preis gegeben habe.

Nach Sekunden verharrender Stille ergreift jemand das Wort und wir sprechen darüber, was das Lied für mich bedeutet (Vergänglichkeit, Weitermachen, Gleichgültigkeit, Kopf-hoch, Alle-in-einem-Boot) und was für andere. Langsam kann ich mich entspannen, aber es bleibt das Gefühl, etwas sehr Persönliches mit der Gruppe geteilt zu haben.

Dies ist nur einer der Momente des Bronnbacher Stipendiums, die mir nun knapp acht Jahre nach Abschluss in lebhafter Erinnerung bleiben, aber mehr noch: die mich auf subtile Art und Weise deutlich mehr geprägt haben, als mir bewusst war.  
Als ich vor kurzem das Privileg hatte, in Mannheim vor dem aktuellen Bronnbacher Jahrgang zu sprechen, lebten die Erinnerungen neu auf. In der Retrospektive ergibt sich ein farbsatteres, konsistenteres Bild.

Das Bronnbacher Stipendium vermittelt nicht bloß ”kulturelle Kompetenz”. Kompetenz heißt, einem fachlichen Standard zu genügen, mitreden zu können. Eine kompetente Fachanwältin vertritt seinen Mandanten sachgerecht vor Gericht. Ein kompetenter Marketingmanager kennt sich aus mit Werbestrategie and Effektivitätsmessung.

Wer kulturelle Kompetenz sucht oder einen weiteren Stichpunkt in der “Auszeichnungen”-Sektion seines Lebenslaufes, den wird das Bronnbacher Stipendium enttäuschen.

Als neuer Stipendiat wird man in das Programm hineingeworfen und ist zunächst orientierungslos. Nur langsam gewöhnt man sich an zum Teil unstrukturiertes, unzähmbares Chaos, das anderen Regeln zu folgen scheint als im Universäts- und Lebensalltag.

Anfangs neigen Charaktere wie ich dazu, das erspürte Chaos durch Kontrolle, Struktur und Ordnung zu bändigen. Einsortieren in bekannte Muster, bewerten und Gefährliches denunzieren.

Später merkt man, wie hilfreich es ist, sich zu öffnen, das Ungewisse, Unbekannte und Nicht-strukturierbare zunächst akzeptieren.

Damit erteilt einem das Programm die lebenswichtige Lektion des Zuhörens: Nur weil das Andere zunächst nicht fass- und begreifbar ist, sollte es dadurch alleine weder ignoriert noch bekämpft werden.

Aber Zeitverlust ist oft nicht der eigentliche Grund für das Ausscheiden. Es ist oft die gefühlte Unsicherheit, der Druck zur Partizipation, die Oszillation zwischen eingeschränkter und hinzugewonnener Freiheit.

Deswegen sind Einsatz, Motivation und Selbstverpflichtung auch die zentralen Auswahlkriterien für das Bewerbungskomitee. Das Bronnbacher Stipendium bietet Stipendiaten nicht nur an, sich mit den unterschiedlichen Sichtweisen auseinanderzusetzen. Nein – es verlangt es, und nutzt dabei auch Grenzen und Zwänge ganz bewusst.

Nur damit schafft das Bronnbacher Stipendium einen Raum für Erfahrung von Kunst und Kultur – aber auch einen, in dem jeder Bronnbacher ein Teil eines sozialen Systems (der Gruppe und ihrer gegenseitigen Erwartungen aneinander) ist.

Dieser Raum ist allerdings nicht federweich: Wer Komfortzonen sucht, ist beim Bronnbacher Stipendium falsch. Der Raum ist das, was in der Leadership-Theorie “Holding Environment” genannt wird (dem Autor sei hier nachzusehen, keine deutsche Übersetzung beider Begriffe gewählt zu haben).

Durch bewusste kulturelle Interventionen lässt sich der “Druck” in einem System erhöhen, wodurch tatsächliche Lernerfahrungen möglich sind. Das Konzept ist der Thermodynamik entlehnt. In einem Behälter, in dem der Druck erhöht wird, steigt die Temperatur und die kinetische Energie der einzelnen Gasmoleküle.

No pain, no gain? Ganz so einfach ist es nicht, weil der Druckbehälter natürlich auch bersten (oder im schlimmsten Fall explodieren) kann. Die Temperatur und der Druck müssen sich in einem produktiven Korridor befinden.

Damit sehe ich im Bronnbacher Programm deutlich mehr als nur ein Wochenendkulturprogramm.
Es legt das Fundament für wirkliches Leadership, das nach Prof. Ronald Heifetz, der an der Harvard Kennedy School lehrt, keine Position (“Führungsposition”), sondern eine Aktivität ist.

Das Bronnbacher Stipendium bereitet Studenten darauf vor, fundamentale Änderungen herbeizuführen, etwa Änderungen in der Weltanschauung oder im Wertesystem einer Abteilung, einer Organisation oder sogar einer Nation.

Viele der Stipendiaten werden später das, was wir gemeinhin “Führungskräfte” nennen. Menschen, die “Mitarbeiterverantwortung” haben und gemeinsam in und mit Teams Probleme lösen.

Einige werden aber auch alle mit Problemen konfrontiert, die nicht bloß technischer Natur (Probleme, deren Lösungswege prinzipiell bekannt sind) sind, sondern ein vollständiges Anders- und ein Umdenken erfordern.

Und genau darauf bereitet das Bronnbacher Stipendium vor:

Es lehrt, zuzuhören anstatt zu diktieren. Es hilft, das Fremde und Unsichere zunächst zu akzeptieren anstatt es gleich zu kategorisieren und zu bewerten. Und es zeigt, wie man Räume zielgerecht gestaltet, in denen die wichtigen Fragen gelöst werden können.

Was bleibt, acht Jahre später?

Erlebnisse, die sich langsam zu einer runderen, konsistenteres Lernerfahrung zusammenfinden.

Freundschaften, die weit über den Begriff “Netzwerk” hinausgehen.

Liebe, für die Kunst.

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