Lo.Li.Ta. – Drei Silben, drei Gedanken
Lolita von Vladimir Nabokov nach einem Jahr als Bronnbacher Stipendiat – von Falko Gauß, 13. Jahrgang
Ich bin gerade auf einem Forschungsaufenthalt in Tokio und brüte dort über mathematischen Problemen. Insbesondere untersuche ich hier unter Anleitung meines Gastgebers an der Tokyo Metropolitan University Stokes-Phänomene bei exzeptionellen Singularitäten. Beim Nachdenken kommen mir gleichzeitig aber auch einige Gedanken zum Bronnbacher Programm und zu meinem Lieblingsbuch Lolita von Vladimir Nabokov in den Sinn. Diese möchte ich teilen.
2010, ich lese es zum ersten Mal:
„ … die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei drei gegen die Zähne. Lo.Li.Ta.“ Ich probiere es gleich aus – reinste Sinnlichkeit, denn ich kann es auch eigenmündig spüren – Lo.Li.Ta. Ab diesem Moment beginne ich eine anhaltende Faszination für den gleichnamigen Roman zu entwickeln. Insbesondere deshalb weil der Roman Lolita keinen unmittelbaren Zweck erfüllt. Dies steht im Gegensatz zu den allermeisten Büchern, auch den modernen. Sie wollen mahnen und lehren oder unterhalten und Nervenkitzel erzeugen.
Die Lolita dagegen will sicherlich nicht mahnen und lehren. Was gäbe es auch zu lernen, außer wie vermeintlich kultiviert und geistreich ein Schwerverbrecher sein kann? Sie will wohl ebensowenig unterhalten und Nervenkitzel erzeugen, denn allzuviele Passagen sind langatmig und verlieren sich in Belanglosigkeiten.
Will sie vielleicht nur den Leser täuschen, wie mancher Literaturkritiker einwendet? Und wenn ja, geht man dabei der amerikanischen Vorstadtgöre Lolita, dem wahnsinnigen Verbrecher Humbert, der sich an diesem Mädchen vergreifen wird, oder dem Autor Vladimir Nabokov auf den Leim?
Die Frage nach dem Wesen der Lolita ist für mich keineswegs beantwortet. Sie steht deshalb auch Jahre später prominent platziert in dem Motivationsschreiben, mit dem ich mich um das Bronnbacher Stipendium bewerbe. Im Bewerbungsgespräch werde ich recht bald auf diese Frage angesprochen und vermittle anscheinend glaubhaft mein Interesse an ihr, denn ich werde Stipendiat des 13. Jahrgangs. Ist mir die Frage aber wirklich so wichtig oder ist mir damit nur das Auswahlgremium auf den Leim gegangen? Ist diese Frage es wirklich wert, eine Frage zu sein mit der man sich längere Zeit beschäftigen sollte – als eine Art Lebensfrage? Ist dafür das Buch, mit der im Grunde albernen und handlungsarmen Erzählung über jemanden der Nymphetten nachjagt, wichtig genug?
Ich versuche dieses Buch mit einem wertschätzenden Blick anzusehen, so wie ich während des letzten Jahres sehr viele Kunstwerke – Menschen und Dinge – angesehen habe. Es ist zunächst die Ästhetik dieses badly-behaved girl und des even more badly-behaved guy, der sie beschreibt, die heraussticht – die mich anzieht. Vielleicht wünschte ich, ich wäre so badly-behaved am ersten Bronnbacher Wochenende gewesen und hätte zumindest das von der Lolita gelernt. Dann hätte ich gewusst, dass es im Grunde unwesentlich ist, was man tun solte. Es ist letztlich meine Empfindung die zählt. Wenn ich es mag, wenn mir es etwas bedeutet – so what.
Für mich offenbart die Lolita unter diesem wertschätzend-prüfenden Blick aber auch die Notwendigkeit ein offenes Auge für eine Sinnlichkeit in meinem Alltag zuzulassen. Seine Umwelt mit einem die Sinnlichkeit erkennenden Auge zu betrachten, wie es Humbert auf seinen Reisen im Buch auch tut, ist durchaus eine Art von Lehre die ich aus der Lolita ziehen kann. But the answers you seek will never be found at home…
Letzlich ist die Lolita aber natürlich auch Provokation. Das war sie schon damals in Großbritannien wenige Monate nach ihrem Erscheinen im Jahr 1955 und ist sie wohl selbst heute noch. Und die Provokation ist ein Ideal an dem wir nicht locker lassen dürfen!
Also eine Antwort und ein Happy End für mich? Nein, aber immerhin drei Gedanken dazu aus meinem vergangenen (Bronnbacher) Jahr.