Kulturhauptstadt 2010 – (K)ein Blick zurück in Trauer
Das Kulturhauptstadtjahr begann mit viel Schnee und bunten Regencapes auf dem Gelände der Zeche und Kokerei Zollverein. Es begann mit viel Wirbel und vielen großen Erwartungen. Am 18.12. wurde nun zwischen Endjahresstress und Weihnachtsfeiern – wieder mitten im Schnee – der Abschluss des Kulturhauptstadtjahres gefeiert. Zeit, um eine Resümee zu ziehen. Von Sarah Meyer-Dietrich
Ein knappes Jahr nach der Eröffnungsfeier stellt man sich die Frage: Was bleibt? Welche Eindrücke? Welche Erkenntnisse? Welche Hoffnungen?
Es gab Momente, da schien das fragmentierte Ruhrgebiet tatsächlich zu einer Einheit zu verschmelzen. Unvergessen das gemeinsame Singen des Steigerliedes am Day of Song, unvergessen die Riesenparty auf der A40, unvergessen die Schachtzeichen, die sich wie gigantische gelbe Stecknadeln durchs Revier zogen. Und dennoch bleibt das vereinte Ruhrgebiet weiterhin eine Illusion, eine Utopie. Das haben wir spätestens nach dem traurigen Ende der Love Parade gesehen. Als doch viel zu oft mit dem Finger auf Duisburg gezeigt wurde und man mehr als einmal hörte: „Wir in Bochum haben 2009 die Love Parade ja aus Sicherheitsgründen abgesagt.“ Da merkte man sie wieder wie eh und je: die Vereinzelung der Ruhrpottstädte.
Offensichtlich geworden ist, dass große Worte – wie das der „Metropole Ruhr“ – einer Region genau so wenig einfach übergestülpt werden können wie eine Ruhrgebietshymne. Knapp 12 Monate nach Grönemeyers Auftritt hat seine Hymne noch immer keinen Kultstatus, das Steigerlied hingegen wird bleiben.
Es gab große, denkwürdige Momente in diesem Kulturhauptstadtjahr. Aber zwischen diesen überdimensionierten Großveranstaltungen fanden viele kleine Highlights zu wenig Beachtung. Schöne Ideen wie der Lesemarathon in Bochum zum Beispiel. Bei einem Kulturprogramm der Superlative aber wahrscheinlich auch kein Wunder: Da muss leider immer irgendwer den Kürzeren ziehen.
Und deutlich wurde auch, dass das Ruhrgebiet in Sachen Kulturmanagement noch viel lernen muss. Eher unübersichtlich gestaltete sich etwa die RUHR.2010-Homepage, auf der Veranstaltungen mitunter nur mit Hilfe von externen Suchmaschinen – nicht aber mit Hilfe der internen Suchmaske – zu finden waren. Und hatte man sie dann gefunden, waren die Beschreibungen oft so kryptisch, dass man manchmal trotzdem ratlos blieb.
Nicht immer war das Ruhrgebiet dem Massenandrang auf den kulturellen Großveranstaltungen gewachsen: Auf der A 40 steckten die Fahrradfahrer fest, auf der Extraschicht gab es mehr Warteschlangen als Kultur zu sehen, vor allem aber die Sicherheitsvorkehrungen auf der Love Parade konnten den Massen nicht standhalten. Das Ruhrgebiet wird noch lernen müssen, wie man Großevents veranstaltet.
Und mancherorts waren leider auch die Local Heroes eher eine Enttäuschung. Nicht nur für das Publikum, das sich mehr von der eigenen Stadt erhofft hatte. Auch für lokale Größen und alternative Szenen, die teilweise viel zu wenig eingebunden wurden. Wenn schon Starlight Express und die Bochum Total als Highlights der Local Hero Woche in Bochum herhalten müssen, so zeigt sich hier doch ein eher klägliches Bild von einer kulturell keineswegs so verwahrlosten Stadt.
Von einer Kulturhauptstadt der „Pleit(g)en, Pech und Pannen“ zu sprechen, oder von einer „gescheytterten“ Zukunft der Kulturhauptstadt, wie das in diesem Jahr immer wieder zu lesen war, ist aber mehr als unfair. Es mag vieles schief gelaufen sein, aber dass vieles glatt lief und großartig war, darüber wird manchmal in der typisch kritischen Manier deutscher Meinungsjournalisten hinweg gesehen.
Im Jahr 2010 ist im Ruhrgebiet auch vieles ins Rollen gekommen, das nachhaltig die Region prägen wird. Die großen Zugpferde wie Day of Song und das Still-Leben auf der A 40 bleiben als Symbolbilder in den Köpfen der Ruhrgebietler haften. Als Beispiel für Kultur, die ohne Hemmschwellen sein kann. Noch mehr aber als Beispiel für ein Ruhrgebiet, das ohne Grenzen sein könnte.
Und auch überregional mögen diese Bilder ihre Spuren hinterlassen. Um wieder ein kleines bisschen mehr aufzuräumen mit Ruhrgebietsklischees. Immerhin ist selbst Günther Grass – nach seiner Lesung in der vom Literaturbüro Ruhr initiierten Reihe „Mehr Licht“ – ein Fan der Idee, dass das Ruhrgebiet ein Literaturhaus NRW bekommen sollte. Und passend zum Thema: Auch die Lichtkunstbiennale gab durchaus ein Gefühl von Weltstadt.
Nachhaltig werden auch die Museen sein, die anlässlich der Kulturhauptstadtjahres (wieder-)eröffnet wurden: Das neue Ruhr Museum, das auf dem Gelände der Zeche Zollverein die Ruhrgebietsgeschichte wach hält, zum Beispiel. Und das wiedereröffnete Museum Folkwang, das in diesem Jahr bereits viele beeindruckende Ausstellungen vorzuweisen hatte.
Und vielleicht ist auch etwas gewonnen für die Identitätssuche des Ruhrgebiets. Der Strukturwandel war hart. Er hat Verletzungen hinterlassen. Anfang des Jahres äußerte sich Elmar Weiler, Rektor der Ruhr-Universität, im Spiegel über das Ruhrgebiet. Industriekultur heißt für ihn Trauerarbeit, die wichtig ist, um den Niedergang der Industrie auszuhalten und die eigene Identität zu bewahren. Da hat er sicher Recht. Es ist wichtig zu bewahren und zu erinnern.
Aber es ist genau so wichtig nach vorne zu schauen. So sieht es auch nach dem klassischen Modell der Trauerphasen aus. Demnach befindet sich das Ruhrgebiet bereits in der dritten Phase – der Auseinandersetzung mit dem Verlust bis hin zum Idealisieren und Glorifizieren der Vergangenheit. Nun kann es also langsam in Phase vier gehen: Akzeptanz und Hinwendung zum Neuen. Für das Ruhrgebiet heißt das: sich neu erfinden. Den Strukturwandel antizipieren und sich mitten hinein stürzen.
Natürlich könnte man jetzt trotzdem Kurt Tucholsky zitieren und über das Kulturhauptstadtjahr sagen: „Das war alles?“ Und: „Ich habe es nicht so richtig verstanden.“ Und: „Es war ein bisschen laut.“ Aber ein bisschen laut muss eben sein, wenn man über die Ruhrgebietsgrenzen hinweg gehört werden will. Und das zumindest hat ja nun schon einmal funktioniert. Verstehen kann man in der Kunst sowieso nicht immer alles. Will man mitunter auch gar nicht. Und ob das alles war? Hoffentlich nicht. Aber das hängt von uns allen ab: Wie die Kulturregion Ruhrgebiet weiter gestaltet und wie das Angebot genutzt wird.
Natürlich ist das Dortmunder U nicht die einzige Baustelle, die trotz Kulturhauptstadt übrig geblieben ist. Aber die Hoffnung bleibt, dass auf allen diesen Baustellen weiter „malocht“ wird, wie es sich für das Ruhrgebiet gehört.
Ein Jahr ist also um. Draußen liegt wieder Schnee. Und vor dem Fenster im Schnee sehe ich einen Obdachlosen mit einem Cape, das verdächtig nach Kulturhauptstadteröffnungscape aussieht. So hat doch alles seinen Sinn.