Kahvehane, Turkish delight – German fright?
Kaffeehäuser in Kreuzberg, Marxloh oder Mülheim: Oft erscheinen sie wie Parallelwelten, wie Leerstellen in der Stadt. Doch was steckt hinter diesen „Kulturvereinen“? Ein Performance-Parcour führt in sechs anatolische Kaffeehäuser in Berlin-Kreuzberg. Eine besondere Reise. Von Sibylle Schlevogt
„Du wirst gleich deinen freien Willen verlieren. Du tust was ich dir sage. Schließe jetzt deine Augen. Du sitzt im Café Beylerbeyi, Beylerbeyi ist ein Dorf in der Türkei. Dein Name ist Ibrahim, 38 Jahre. Du lebst seit 10 Jahren in Deutschland. Nach einem heftigen Streit mit deiner Frau bist du heute hierhin gekommen. Wenn dich doch nur jemand ablenken könnte! Atme einmal tief durch. Öffne jetzt die Augen. Links neben dir dein guter Freund Emre, rechts neben dir der junge Hakan, gegenüber von dir dein arbeitsloser Freund Ahmet. Hakan beginnt die Karten zu verteilen. Da klingelt dein Handy – bestimmt deine Frau. Los, geh schon dran!“
Plötzlich ist man mittendrin. Mittendrin in diesem abgedunkelten, einfach eingerichteten Raum, in dem einige Männer Karten spielen und Tee trinken, mittendrin in der anatolischen Kaffeehauskultur.
Über einen Kopfhörer werden einem Regieanweisungen und Texte zugeflüstert, sodass man sich auf einmal auf Türkisch unterhält, sich anbrüllen lässt oder voller Wut mit der Hand auf den Tisch haut. Die Audio-Collage von Michael Ronen führt verschiedene Charaktere zusammen und verwandelt den Zuschauer in den jeweiligen Akteur. Plötzlich sind es eher die normalen Besucher des Kaffeehauses, die immer wieder herüber schauen und so zu Zuschauern werden.
Die Teilnehmer des performativen Parcours ‘Kahvehane – Turkish delight, German fright?’ des Berliner Theaters Ballhaus Naunynstraße werden aktiv gefordert. In jedem der sechs Kaffeehäuser, welche die Kleingruppen auf ihrem Spaziergang durch Berlin Kreuzberg besuchen, treten sie in Interaktion mit den Schauspielern und den ganz normalen Besuchern des jeweiligen Kaffeehauses. Als Nebeneffekt lernen sie Kreuzberg kennen, einen Kiez, der ganz besonders durch türkische Migranten geprägt wird, der aber gleichzeitig Ort kreativer Prozesse und zunehmender Gentrifizierung ist.
Im Café Picknick, der ersten Station, stellt Regisseurin Züli Aladağ in dem kurzen Video „All we need is education“ postmigrantische Schüler mit ihren Zukunftsplänen vor, die gemeinsam das Lied „We don’t need no education“ umdichten und einstudieren.
Plötzlich geht die Tür des Cafés auf und herein kommen die Schüler, die nun das Ergebnis ihrer Probenarbeit live präsentieren und den Überraschungsmoment mit Ausstrahlung und Selbstbewusstsein füllen. Durch die Intimität der Situation – vier Akteure singen für sechs Besucher – entsteht eine angenehme, familiäre Atmosphäre.
Völlig unbeeindruckt bleiben die Männer am Nachbartisch, die gerade ihre Spielsteine neu verteilen. Kein Wunder, im 30-Minuten-Takt sind sie heute immer wieder Zeuge dieser Performance.
Etwas ruhiger geht es im Café Türkiyemspor zu. Das Vereinslokal der erfolgreichsten migrantischen Fußballmannschaft ist zwar gut gefüllt, aber in einem abgetrennten Raum sitzen zwei alte Männer, die einvernehmlich schweigen und ab und zu klirrend ihren Tee umrühren.
Auf einmal stehen sie auf und führen gemeinsam einen Tanz vor. Dieser langsame Tanz ist ohne Musik und beide Männer strahlen dabei eine innere Ruhe aus.
Im anschließenden Gespräch können dank einer Übersetzerin viele Fragen gestellt werden. Wie lange leben die beiden schon in Deutschland? Was mögen sie besonders gerne hier? Wie lebten sie in der Türkei? Warum sind nur Männer in den Kaffeehäusern?
Und auch die Männer stellen Fragen an die Teilnehmer. Kommt ihr aus Berlin? Kennt ihr euch?
Es folgen weitere Stationen, von amüsanten Details und traurigen Hintergründen werden die Zuschauer in viele Seiten der Kaffeehauskultur mit einbezogen und im letzten Kaffeehaus sogar zum Mitspielen des Okey-Spiels aufgefordert. Umso überraschender wirkt der höfliche, aber bestimmte Herauswurf, nachdem man sich plötzlich ziemlich verloren an einer Straßenkreuzung irgendwo in Kreuzberg wiederfindet, noch völlig irritiert von dem gerade Gesehenen.
In dem Performance-Parcour geht es um alt bekannte Themen wie Integration und Heimatsuche, doch sie werden dem Zuschauer auf eine neuartige Weise vermittelt. Die Kaffeehäuser, die nicht nur in Kreuzberg und Neukölln in jeder Straße zu finden sind, erscheinen oft wie Parallelwelten, Leerstellen in der Stadt. Doch was steckt hinter diesen „Kulturvereinen“? Als damals in den 70er Jahren die ersten Gastarbeiter nach Deutschland kamen, stießen sie an Kneipen nicht selten auf das Schild „Türken verboten“. Da sie meist nicht die Möglichkeit hatten, eine Gewerbelizenz zu bekommen, gründeten sie Kulturvereine.
Oft verkehrt in einem Kaffeehaus Kundschaft, die aus dem gleichen Ort der Türkei stammt und sich durch die gemeinsame Heimat verbunden fühlt. Manchmal ist das Kaffeehaus nach dem Heimatort benannt oder es hängen Fahnen oder besonderer Schmuck an den Wänden.
Das Theater Ballhaus in Berlin ist als Anlaufstelle für Künstler mit Migrationshintergrund bekannt. Das Repertoire beschränkt sich dabei nicht auf Migrantenliteratur, sondern ist viel weiter gefächert. Regisseure, Choreographen, Tänzer und freischaffende Künstler haben gemeinsam das Programm für den Parcour entwickelt und gerade durch diese Interdisziplinarität eine Vielschichtigkeit der Thematik erreicht.
Diese Orte, die so wesentlich das Bild vom Kiez prägen, haben sich geöffnet für Besucher und für Kunst, die nicht immer nur einen positiven Blick auf die Kaffeehauskultur wirft.
Die Teilnehmer des Parcours haben anfängliche Hemmungen überwunden und sich intensiv mit den Traditionen und kulturellen Unterschieden beschäftigt.
Aber besonders die Künstler, die beide Seiten in einer angenehmen Atmosphäre zusammen bringen und den Austausch durch persönliche Hintergründe bereichern, tragen wesentlich dazu bei, dass dieser Theater-Parcour ein einzigartiges Erlebnis ist.