Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: leçon numéro un
Am 24. September war es im Bochumer prinz regent theater so weit. Die erste von zehn Proust-Lesungen fand statt. Ich habe mich getraut und war dabei! Von Sarah Meyer-Dietrich.
Ich habe mich meiner Angst gestellt. Bin zur ersten von zehn Proust-Lesungen gegangen. Sitze im prinz regent theater. Im kleinen Foyer. Auf einem der Sofas, die aus dem Theater-Fundus zusammengetragen wurden. Ich habe Glück, dass ich einen Sitzplatz ergattert habe. Das kleine Foyer füllt sich schnell. Die Sitzplätze werden schnell knapp. Und schließlich müssen neue Stühle herangetragen werden – wer weiß woher.
Die Menge der Marcel-Proust-Interessierten mag eine Nische bilden, aber keine kleine Nische, wie es aussieht.
Ich wüsste gern, wer sie sind, die sich hier versammelt haben. Proust-Veteranen, die alle Bände mindestens einmal gelesen haben? Proust-Interessierte, die schon immer mal wollten, aber dann doch irgendwie nicht zum Lesen gekommen sind? Proust-Abenteurer, die keine Ahnung haben, was auf sie zukommt und einfach mal schauen wollen?
Vielleicht von allem etwas. Jedenfalls: Bochum ist mutig. Bochum traut sich heran an Proust. Bochum macht sich auf, die verlorene Zeit zu suchen.
Expeditionsleiter: Schauspieler Stephan Ullrich.
Erst noch einleitende Worte von Prof. Dr. Ralph Köhnen, Leiter der Literarischen Gesellschaft, seines Zeichens Proust-Veteran. Er kann einen Ausblick geben, auf das, was uns erwarten wird. Seine Worte sind tröstlich. Die Proust-Lektüre, da macht Köhnen keinen Hehl draus, war auch für ihn, den studierten und promovierten Germanisten nicht immer leicht. Aus eigener Erfahrung kann er sagen, dass Proust passagenweise durchaus als einschläfernd-beruhigende Bettlektüre dient (unwillkürlich muss ich an diesen Cartoon denken, den ich neulich fand: „Ich hatte mir angewöhnt, Proust nur noch mit geschlossenen Augen zu lesen“). Aus eigener Erfahrung kann er sagen, dass Proust einem lang werden, einen wütend machen kann (da möchte man schon mal den Band, an dem man gerade liest, in die Ecke pfeffern). Aus eigener Erfahrung kann er sagen, dass es Momente gibt, da mag man einfach nicht mehr weiterlesen.
Aber dann, sagt Köhnen, stößt man wieder auf eine dieser Perlen in Prousts Werk, die man nicht missen möchte. Für die sich die ganze Lektüre schließlich lohnt.
Es müssen diese Perlen sein, die trotz der Längen und Müdigkeitsanfälle Proust lesenswert machen. Die den Mythos Proust ausmachen. Die dazu führen, dass Proust auch nach rund hundert Jahren den literarischen Salon einer Ruhrgebietsstadt mühelos füllt.
„Darf man, wenn man alle zehn Lesungen gehört hat, eigentlich sagen, dass man Proust gelesen hat?“, fragt eine meiner Begleitungen.
Ich fürchte nein. Aber man darf sicherlich eine Meinung haben. Ob sich Proust zu lesen lohnt. Denn es sind die Perlen, die Köhnen für uns herausgesucht hat aus den Tausenden von Seiten.
Ich bin gespannt. Und weiterhin besorgt. Ich habe einen langen Tag hinter mir. Um 6 Uhr Weckerklingeln. Den ganzen Tag gearbeitet. Und im Anschluss direkt ins prinz regent. Die Gefahr des Einschlafens ist groß. Die Gefahr des Eingelulltwerdens. Wenn der Geist sich endlich entspannen kann, dann tut er das mitunter etwas zu genüsslich. Ich gebe es nur ungern zu. Aber seit ich zur hart (will sagen: nicht körperlich hart, aber zeitlich zu viel) arbeitenden Bevölkerung gehöre, drohe ich in Theater, Oper, Lesungen immer häufiger einzuschlafen. So sehr ich auch dagegen ankämpfe.
Genug vorbereitet. Genug reflektiert. Genug befürchtet und bedacht.
Es kann losgehen. Stephan Ullrich betritt den Salon. Das Skript in der Hand.
„A la recherche du temps perdu“ – leçon numéro un.
Vielmehr betritt Ullrich nicht einfach den Salon. Er tritt auf. Wie ein echter Schauspieler. Mit geballter Bühnenpräsenz.
Er beginnt die ersten Seiten des ersten Teils zu lesen.
Jene Seiten also, die ich – siehe Blog-Beitrag „Angst“ – bereits zweimal gelesen habe. Jene Seiten, auf denen Proust das Erleben des desorientierten Aufwachens mitten in der Nacht beschreibt. Diesen Moment, in dem man zuallererst nicht einmal mehr weiß, wer man selbst ist, geschweige denn, wo man sich befindet und in welcher Zeit.
Er beschreibt, in vielen Schachtelsätzen und in absoluter Detailtreue wie nach und nach das Bewusstsein erwacht, der Aufwachende erst einen Ort, an dem er gelebt hat, nach dem anderen abklopft, wie sich sein Körper an alle diese Orte erinnert, bis das Bewusstsein endlich dort ankommt, wo sich der eben erwachte wirklich befindet. Am rechten Ort zur rechten Zeit.
Und schon in dieser Szene wird deutlich, wie wichtig das Erinnern ist. Wie es in einem lichtlosen Raum die Identität eines Menschen prägt und konstituiert.
Und obwohl ich diese Sätze bereits zweimal selbst gelesen habe, passiert nicht, was ich befürchtet hatte, meine Gedanken treiben nicht davon, mein Geist wird nicht müde. Ich höre zu – aufmerksam und konzentriert. Und nur manchmal muss ich meine schweifenden Gedanken zurückpfeifen. Weil sie selbst beginnen sich zu erinnern. An Momente, an denen es mir ähnlich ging, wie dem Protagonisten der „Recherche“. Momente, in denen auch ich desorientiert aufwachte.
Ullrich liest auch jene Schlüsselszene aus der Recherche. Als Marcel ein in Tee getauchtes Stück Madeleine isst – und ein unwillkürliches Glücksgefühl ihn überfällt. Ein Gefühl, das er sich nicht erklären kann. Das aus den tiefsten Tiefen seines Bewusstseins, seiner Erinnerung auftaucht, ohne dass die Erinnerung selbst sich greifen lässt.
Proust beschreibt mit unglaublicher Präzision diesen Moment, in dem das Glücksgefühl auftaucht, sich nicht greifen lässt, beinahe doch die Erinnerung folgt, dann doch wieder entwischt, schließlich doch noch an die Oberfläche kommt.
Auch hier ein Moment, an dem ich meine Gedanken wie Schafe auf der Weide wieder zusammentreiben muss. Denn so unwillkürlich wie Marcel erinnert, so unwillkürlich machen sich nun auch meine Gedanken auf die Wanderschaft. Hierhin und dorthin. Sagen „Weißt du noch?“ Erzählen mir Geschichten von Momenten, an denen ein Geruch, ein Geschmack, auch in mir ein konserviertes, erinnertes Gefühl hervorholte.
Wie der Geruch in der Küche der Großmutter einer französischen Freundin mich wieder in meiner frühe Kindheit zurückbrachte, als ich in einem Frankreich-Urlaub der Besitzerin des Bauernhofs, auf dem wir dort lebten, zwischen den Füßen herumkroch, während sie in der Küche das essen zubereitete. Wie der Geruch des einen Parfüms mich fröhlich und leicht macht, der Geruch eines anderen Parfüms wehmütig, der Geruch eines dritten Parfüms melancholisch.
Marcel Proust schreibt über seine Erinnerung. Und aktiviert damit auch die meine.
Und Stephan Ullrich liest die Kettensätze so wunderbar, dass ich trotz des langen Tages zuhören kann, konzentriert bleibe, eintauche in die Suche nach der verlorenen Zeit.
Und mich verliere in der Zeit. Staune, als die Lesung sehr zügig vorbei ist. Mich frage: Wo sie denn nun wieder geblieben ist, die Zeit?
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Lesereihe:
Termine: 24.09./08.10./15.10./22.10./29.10./05.11./19.11./26.11./03.12./17.12. (jeweils 20 Uhr).
Ort: Prinz-Regent-Str. 50-60, 44795 Bochum
Kartentelefon: 0234 – 77 11 17
Homepage: www.prinzregenttheater.de
Die Lesereihe ist ein Kooperationsprojekt zwischen der Literarischen Gesellschaft Bochum und dem prinz regent theater.
www.literarische-gesellschaft-bochum.de
www.prinzregenttheater.de