Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Angst
Am 24. September 2012 ist es so weit. Im prinz regent theater gibt es dann – in Zusammenarbeit mit der Literarischen Gesellschaft Bochum – die erste Lesung aus Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Neun weitere Lesungen werden folgen. Die Vorfreude mischt sich mit Angst. Vor dem Scheitern. Von Sarah Meyer-Dietrich.
Ich gestehe: Ich habe Angst vor Proust.
Ich habe Angst vor diesem mehrbändigen Textmonster „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.
Ich war immer der Meinung, Bücher (und im übrigen auch Filme, Opern und Theaterstücke), die eine gewisse Länge überschreiten, sind bloß nicht genug gekürzt worden. Das klingt banausig, ich weiß.
Dennoch: Ich kenne keinen Spielfilm mit Überlänge, der ohne Längen wäre, keinen 500-Seiten-Schmöker, den man nicht hätte kürzen können. Ab 500 Seiten Länge sind Bücher eigentlich immer zu lang.
Bei Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ reden wir von wesentlich mehr als 500 Seiten. 500 Seiten hat allein der erste Band – in Swanns Welt – den ich mir in einem Anfall von Übermut aus einem Wühltisch mit Mängelexemplaren gefischt habe. 500 Seiten, die ich immer noch nicht gelesen habe. Nicht, weil ich grundsätzlich keine 500-Seiten-Bücher lese (auch wenn ich sie gern kürzen würde), sondern weil ich, siehe oben, Angst vor Proust habe.
Ich weiß, dass ich nicht die einzige bin, der dieses Mammutwerk einen Heidenrespekt einflößt. Ich weiß, dass es vielen so geht: dass sie Angst haben, an diesem Monsieur Proust und seiner Recherche du temps perdu zu scheitern.
Unter uns: Ich bin bereits ein bisschen daran gescheitert. Ich habe versucht, den ersten Band zu lesen. Zweimal schon. Beim zweiten Mal bin ich bis Seite 39 gekommen.
Ich bin ein Vielleser. Ich bin ein Gerneleser. Die Proust-Seiten, die ich gelesen habe, waren nicht schlecht. Mitunter musste ich schmunzeln. Ich musste mich aber auch sehr konzentrieren. Und: Ich habe dann einfach aufgehört. Habe Proust nicht weiter in der Tasche auf Bahnfahrten mitgeschleppt. Zuerst, weil ich auf den Bahnfahrten zwischenzeitlich anderes zu erledigen hatte. Aber auch danach ist Proust nicht in meine Tasche zurückgekehrt. Eine Weile lag er noch auf dem Schreibtisch und wartete geduldig. Dann ist er ins Regal zurückgewandert.
Warum scheitere ich an Proust?
Ist es bereits die Erwartung, dass Proust langwierig, mitunter langweilig und langatmig werden könnte? Ist es die Vorerwartung ellenlanger Kettensätze, die mich bereits von vornherein blockiert?
Immerhin gehöre ich zu den Leuten, die den „Herrn der Ringe“ gelesen haben. Ganz. Alle Bände. Lange bevor es die Filme gab. Dabei scheitern doch auch an Tolkien genug Leser – selbst solche, die sich selbst als Phantasie-Fans sehen.
Aber Proust ist eben nicht Tolkien. Und ich keine 14 mehr wie damals, als ich den Herrn der Ringe gelesen habe. Mit 14 hatte ich noch jede Menge Zeit. Genug Zeit, um mich in Ruhe auf Tolkien einzulassen. Vielleicht hätte ich damals Proust lesen sollen. Vielleicht hätte ich damals die Muße gehabt.
Wo ist sie bloß hin, die ganze Zeit, die ich damals mit 14 hatte? Verplempert, vertan, verloren? Warum ist heute nur noch so wenig von der ganzen Zeit übrig? Ich könnte sie jetzt brauchen, weil dauernd die Zeit zu allem fehlt. Zum Schlafen reicht sie kaum noch. Zum Proustlesen erst recht nicht.
Es gibt Zeiten, das lese ich nur noch im Zug – wenn ich nicht auch da anderes erledigen muss.
Aber Proust ist keine Zuglektüre.
Für Proust braucht man Ruhe. Muße.
Ist der moderne Mensch schlichtweg nicht mehr fähig dazu, Werke wie Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zu lesen?
Oder sollte man es einfach tun: sich die Zeit nehmen, dem Trend der Schnelllebigkeit dieses eine Mal wenigstens trotzen?
Ich werde vorerst nicht noch einmal versuchen, Proust zu lesen. Aber ich lasse mich auf das Experiment Proust ein. Nehme mir die Zeit an zehn Montagabenden Proust vorlesen zu lassen. Mal sehen, was passiert.
Zweimal bin ich gescheitert. Aber ich will es mit Samuel Beckett halten: „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“
Vielleicht finde ich sie dann wieder – die Zeit. Vielleicht kann ich ihr ein Schnippchen schlagen.
zweiter Blogbeitrag:
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: leçon numéro un
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Termine: 24.09./08.10./15.10./22.10./29.10./05.11./19.11./26.11./03.12./17.12. (jeweils 20 Uhr).
Ort: Prinz-Regent-Str. 50-60, 44795 Bochum
Kartentelefon: 0234 – 77 11 17
Homepage: www.prinzregenttheater.de
Die Lesereihe ist ein Kooperationsprojekt zwischen der Literarischen Gesellschaft Bochum und dem prinz regent theater.
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