Alltags- und Arbeitskultur auf den Philippinen – Eindrücke einer Bronnbacherin
Über Naturkatastrophen, brain drain, Karaoke, Entwicklungspolitik und die Herausforderungen einer entschleunigten Arbeitskultur. Ein Erlebnisbericht über ein Praktikum auf den Philippinen und darüber wie sich die Wirklichkeit vom Südsee-Zauber im Katalog unterscheidet. Von Anna-Sophie Liebender.
Nach dem VWL Bachelor-Studium in Mannheim hat es mich in die Ferne verschlagen. Ich habe die Chance bekommen, bei der GTZ (Gesellschaft für technische Zusammenarbeit) für ein Projekt im Bereich Disaster Risk Management von Natural Hazards in Südostasien zu arbeiten. Das Leben und Arbeiten in einem Entwicklungsland ist dem „Südsee-Zauber“, das man aus Reisekatalogen kennt, sehr fern.
In meinem Projekt beschäftige ich mich mit dem Aufbau eines besseren und einheitlicheren Disaster Risk Managements von Flutfrüherkennungssystemen auf den Philippinen. Der globale Klimawandel und seine Folgen wie häufigere Taifune und Starkregen sind bereits deutlich auf den pazifischen Inseln spürbar. Da 80% der philippinischen Bevölkerung in unmittelbarer Küstennähe leben, stiften solche Flutfrühwarnsysteme einen großen Nutzen. Meine Aufgabe ist es, Daten aus flutgefährdeten Regionen zu recherchieren, um sie anschließend mit abgestuften Klimaszenarien in einer umfangreichen Kosten-Nutzen-Analyse auszuwerten.
Die meiste Zeit meines Praktikums verbringe ich in Tacloban, einer provinziellen Stadt mit 200.000 Einwohnern. Dort bin ich die einzige weiße Frau und dementsprechend falle ich auf. In abgelegenen Dörfern ist meine Erscheinung für viele noch ungewöhnlicher: Kinder verstecken sich hinter einem Zaunpfahl und die mutigeren unter ihnen versuchen mich kurz zu berühren.
Nach mehr als drei Monaten konnte ich mich bereits an vieles gewöhnen: an ein (für uns) ganz einfaches Haus in einer (für uns) nicht ganz so guten Gegend. Es ist das letzte Haus aus festen Ziegeln in der Straße. Gleich nebenan befinden sich nur noch zusammengeflickte Hütten. Nachts sammeln wir Wasser in Eimern und verwenden das Wasser zum Duschen, Abspülen und für alle weiteren Notwendigkeiten. Direkt neben meinem Zimmer ist ein öffentlicher Brunnen, an dem die Leute schon ab 4 Uhr morgens Wasser pumpen, um sich dort zu waschen oder um Wasser für den Tag nach Hause zu tragen.
Durch die Nähe zum Brunnen und die zentrale Lage unseres Hauses bekomme ich viel vom Leben der Menschen mit. Leider verstehe ich immer noch nicht die vielen Dialekte, sonst könnte ich wohl Bände schreiben, worüber sich die Menschen am Brunnen unterhalten. Aber natürlich verstehe ich vieles, auch ohne ihren Dialekt zu kennen…, wenn sie lachen, wenn sie auch einmal schreien oder wenn die Kinder alle barfuß laufen und nur ein einfaches Hemdchen besitzen.
Wie in vielen anderen Entwicklungsländern ist ebenfalls auf den Philippinen ein „brain drain“ zu beobachten. Die meisten Besserqualifizierten emigrieren aufgrund besserer (Verdienst-) Möglichkeiten ins Ausland. Allerdings dauern Visagenehmigungen manchmal mehrere Jahre und für diejenigen, die im Land bleiben, bestehen meist nur noch eingeschränkte Möglichkeiten. Beispielsweise die Arbeit im Supermarkt: Hübsche Mädchen, mit einer maximalen Größendifferenz von vier Zentimetern untereinander, können für ein halbes Jahr im Einzelhandel arbeiten, da in dieser Frist vom Arbeitgeber keine Versicherung bezahlt werden muss und dieses Zeitfenster aktiv genutzt wird. Callcenter gelten wiederum als einer der lukrativeren regionalen Arbeitgeber. Diese Sparte war auf die Philippinen verlegt worden, weil in Indien der Akzent der Callcenter Mitarbeiter zu stark war. Nun werden einige amerikanische Kunden in Nachtstunden aus den Philippinen betreut. Die höheren Gehälter sowie eine Krankenversicherung sind attraktiv; sogar für ausgebildete Ingenieure und Krankenschwestern stellt das Callcenter oft die beste Option dar. Andere Nicht-Emigrierende wiederum versuchen sich in der Hauptstadt Manila, aber die Zuzugsraten sind durch Landflucht so hoch, dass Hoffnungssuchende häufig am Straßenrand enden.
Sucht man vor Ort nach erfolgreichen Business-Strategien, scheinen die einzigen wirtschaftlich erfolgreichen Geschäftsleute auf den Philippinen chinesischer Herkunft zu sein. Wenn ich einen Chinesen nach dem Grund frage, weshalb sich unter Filipinos kaum Geschäftsmänner befinden, so erhalte ich die Antwort „weil hier alles wächst“. Man könne aus dem Haus gehen und eine Banane oder eine Mango pflücken und mittags zum Fischen gehen. Man muss in dem Sinne nicht arbeiten, um zu überleben. Wenn man einem Taxifahrer Trinkgeld gibt – mit der Intention, er komme wieder – so hat man sich geirrt. Er hat für die nächste(n) Mahlzeit(en) bereits genug verdient. Diesen Taxifahrer wird man also bis zur nächsten (selbst wahrgenommenen) Geldknappheit nicht mehr sehen.
Manchmal fühle ich mich wie ein Kuhhirte, der Leute zur Arbeit treibt. Alles geht so langsam. Das ist kaum zu glauben. Meine deutsche Herangehensweise prallt ab am gemächlichen Tempo. Wir in Deutschland leben in unserer „Hochleistungskultur“ – nun befinde ich mich jedoch in einer Umgebung, die manchmal genau als das Gegenteil erscheint… alles wirkt entschleunigt und dauert doppelt bis dreimal so lang. Es ist nicht „mañana, mañana“, sondern vielmehr „next week, next month“. Man trifft auf Hindernisse, von denen man glaubte, dass sie nicht existieren würden. – Aber sobald man sich auf die Gegebenheiten einlässt, können sie auch Ursprung für großes persönliches Wachstum bedeuten.
Um Kultur besser zu verstehen, ist Religion immer ein wichtiger Anhaltspunkt. Die Philippinen sind das einzige christliche Land Asiens. Dementsprechend stark und konservativ tritt die Kirche auf. Es gibt beispielsweise mächtige, aktive Kampagnen gegen Verhütung, Aufklärung hingegen nur selten. Als Pendant dazu existiert unter vielen Einheimischen eine gewisse Doppelmoral: Mehrere (wenn auch meist geheime) Partner und als Ergebnis eine sehr kinderreiche Gesellschaft.
Wenn ich nach bedeutenden philippinischen Gebräuchen oder Festlichkeiten frage, erhalte ich als Antwort „Filipinos love karaoke“. Karaoke gilt hier wirklich als eine Art „Volkssport“ und aus fast jedem Restaurant, jeder Bar, jedem Haushalt ertönt das süße Gejohle mit starker Tendenz zu romantischen Liebesliedern. Außerdem sind die sogenannten „Fiestas“, regelmäßig auftretende Dorf- und Stadtfeste, sehr charakteristisch. Zu Trommel- und Trompetenmusik finden Umzugsparaden statt und die bunt maskierten Tanzenden entfachen Euphorie auf den Straßen. Während der Fiesta ist ein Jeder Gast und offene Haustüren heißen zum Festmahl willkommen. Nicht selten wird dabei ein ganzes mittleres Monatseinkommen in die repräsentative Menüvorbereitung investiert. Feste Bestandteile sind jeweils Hahnenkämpfe, Damenschönheitswettbewerbe sowie in liberaleren Gemeinden Talent Shows mit Lady Boys.
Filipinos scheinen häufiger zu lächeln. Ich sehe viele Kinder, deren glückliche Gesichter so hell strahlen. Ob die Bevölkerung insgesamt glücklicher ist, kann ich nicht beurteilen. Glaube, starker familiärer Zusammenhalt und eine Tendenz, sich nicht allzu viele Gedanken um übermorgen zu machen, könnten Gründe für die Happiness der Menschen sein. Natürlich ist vor allem in touristischen Orten das Lächeln nicht immer echt und wird mittlerweile schon als philippinischer Markenbestandteil mitverkauft.
Wenn ich die Geschehnisse sowie Erfahrungen in der EZ (Entwicklungszusammenarbeit) reflektiere, sehe ich drei Möglichkeiten, wie sich etwas auf den Philippinen verändern kann: Erstens, mit politischem sowie wirtschaftlichem Druck, was allerdings kaum nachhaltig wäre. Zweitens, müsste auf den Philippinen eine große Not bestehen (was die Menschen vor Ort auch so empfänden) und ein Umdenken als einziger Ausweg erscheinen. (Allerdings ist das reinste Hypothese.) Drittens, die Beste: die Gesellschaft finge aus dem Kern heraus an umzudenken, aber das wird so schnell nicht passieren. Zuviel Korruption und innerpolitische Machenschaften werden einen Wandel kaum zulassen. Warum sollte man auch seine eigene Machtposition gefährden?
Ebenfalls denke ich daran, wie Dirk Niebel als erster ganz offen und ehrlich formuliert, dass Deutschland sich bei der EZ nur noch um Länder kümmert, in denen politische und wirtschaftliche Interessen verfolgt werden. In Afrika sind das Rohstoffe, woanders geht es um politische Machtdemonstration. Fördern wirtschaftliche Beziehungen jedoch wirklich Entwicklungshilfe? Oder ist es nicht so, dass die meisten einfachen Menschen auf der Strecke bleiben und ihnen nur auf anderem Wege, eben direktem Wege, geholfen werden kann? Oder sollte man noch eine Ebene höher gehen? Ist es der einzige Weg, Strukturen top-down zu bearbeiten? Wäre es vielleicht ein möglicher Anfang, die Subventionen für Tomaten aus Spanien zu kürzen, weil Afrika dadurch eine teurere Tomatenproduktion aufweist und somit auf den Export aus Spanien angewiesen ist? Und was machen eigentlich die wirtschaftlichen Interessen Chinas? Milliarden an Dollar fließen in rohstoffreiche Länder wie Afrika, selbstverständlich mit der damit verbundenen Forderung der Liefersicherung. Menschenrechte interessieren dort nicht. Wo findet man sich in solchen Gefügen als moderner und aufgeklärter Mensch wieder?
Für die Erlebnisse hier bin ich sehr dankbar.
Herzliche Grüße aus Südostasien!
Anna-Sophie