2-3 Straßen: Ein kollektives Schreibprojekt nach einer Idee von Jochen Gerz

2-3 Straßen: Ein kollektives Schreibprojekt nach einer Idee von Jochen Gerz

2strassencoveerFast achtzig Autorinnen und Autoren beziehen Wohnungen im Ruhrgebiet, beobachten den Alltag und schreiben gemeinsam ein Buch. Nun liegt das gedruckte Ergebnis vor: 2-3 Straßen/TEXT.
Von Miriam Bargheer.


2-3 Straßen – hinter dem bescheidenen Titel verbirgt sich ein ambitioniertes Projekt: 78 Personen verließen 2010 ihre vertraute Umgebung, um ein Jahr lang gemeinsam ein Buch zu schreiben und Teil einer Ausstellung zu werden. Die 2-3 Straßen, deren Alltagsleben der 1940 in Berlin geborene Künstler Jochen Gerz ein literarisches Denkmal setzen wollte, liegen in Wirklichkeit verstreut in Dortmund, Mülheim an der Ruhr und Duisburg. Es sind typische Ruhrgebietsstraßen und stellen als solche einen Mikrokosmos des Lebens und Zusammenlebens sowie der Probleme eines urbanen und multiethnischen Raums dar.

Jochen Gerz

Jochen Gerz

Im Vorfeld des Projekts tauschte sich Jochen Gerz zwölf Monate lang intensiv mit den potenziellen Projektteilnehmern via Internet aus. Er wollte die Motivation der Bewerber ergründen, da die Teilnahme an diesem Projekt für den Einzelnen weitaus folgenreicher sein würde, als die übliche Teilnahme an einer Ausstellung. Schlussendlich wurden aus insgesamt 1457 Bewerbern 78 Kandidaten ausgewählt. Die Wohnungen für 2-3 Straßen wurden mietfrei zur Verfügung gestellt.

Zusammen mit den ansässigen Bewohnern und Besuchern der ausgewählten Straßenzüge entstand über das Jahr 2010 hinweg ein 3000 Seiten starker mehrsprachiger Text – verfasst von 887 verschiedenen Autoren. Die Texte wurden am Computer geschrieben und mithilfe einer browserbasierten Software archiviert. Durch die direkte Einspeisung in eine geschützte Oberfläche war es den Verfassern nicht mehr möglich, die Beiträge im Nachhinein zu korrigieren. Dadurch verblieben die Schriftstücke in ihrer ursprünglichen Fassung und können somit als eine unmittelbare und authentische Momentaufnahme gelesen werden.

Während der Lektüre einiger Passagen wird deutlich, welche Vielfalt und welcher Einfallsreichtum – und auch welche literarische Qualität – so über ein Jahr entstanden sind. In den einzelnen Texten werden die unterschiedlichsten Themen behandelt. Die Autoren setzen sich mit ihrer Umgebung, ihren Mitmenschen, dem Leben in Deutschland bzw. in den Ruhrgebietsstädten und natürlich mit 2-3 Straßen auseinander. Ihrer Kreativität war buchstäblich keine Grenze gesetzt, denn Gerz machte bezüglich des Inhalts und der Form des Buches keinerlei Vorgaben, außer, dass der Text allein verfasst werden müsse. Gerz selbst hat dabei keinen eigenen Beitrag beigesteuert, denn er bringe lieber andere zum Schreiben.

jochen-gerz2Der Entstehungsprozess des Textes wurde visualisiert, indem die Texte unmittelbar nach ihrem Entstehen ungefiltert als Sequenz über einen Bildschirm im Museum Folkwang liefen. Das Museum fungierte dabei nicht allein als Ausstellungsraum. Jochen Gerz sei klar gewesen, dass er bei der Umsetzung seiner Ideen institutionellen Rückhalt benötigen würde, weshalb er das Museum Folkwang um Unterstützung bat und ihm dafür eine eigene Rolle im Prozess versprach. Im Grunde wollte er nur, dass das Museum verlauten lässt: „Lasst den Jungen machen, das ist Kunst.“

Dass das Projekt am Ende in Form eines Buches bestehen werde, sei von Anfang an geplant gewesen. Laut Gerz finde sich die multipolare, multisubjektive und multiperspektivische Art des Buches derart auch in der abstrakten Kunst. Zudem liege der Reiz des Schreibens darin,„es einfach zu machen“. Die Gesellschaft und die Menschen seien laut Gerz heute selbst Autoren mit eigenem Bewusstsein, was sich mit der heutigen demokratischen Gesellschaftsform decke. Das Ziel sei demnach, nicht andere, sondern sich selbst zu lesen. Na dann lesen wir mal nach…

2–3 Straßen / TEXT und 2–3 Straßen / MAKING OF von Jochen Gerz sind im DUMONT Verlag erschienen.

 

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